Mittwoch, 19. Oktober 2016

Rezension: René van Neer/Stella Braam - Wie sich Alzheimer anfühlt

Wie die Krankheit sich anfühlt - Alzheimer auf der Spur

René van Neer/Stella Braam (2016). Ich habe Alzheimer - Wie die Krankheit sich anfühlt. Weinheim (GER), Beltz Verlag

Verlag: www.beltz.de 

Das Buch wurde freundlicherweise von NUGENIS zur Verfügung gestellt – www.nugenis.eu 

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Alzheimer, Demenz, Betroffenenliteratur, Leben, Lebensbewältigung, Lebenskompetenz, Krankheit, Rezension 

Dem Phänomen Demenz auf der Spur oder "Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen." (Hokusai)


Rezension Kratochvila - van Neer/Braam (2016) Alzheimer
Die japanische Autorin Banana Yoshimoto hat in einem ihrer Bücher folgenden Gedanken formuliert, der sich sehr gut zum Thema Alzheimer-Demenz fügt: "Alle Menschen sterben früher oder später. Es ist also sehr wichtig. wie sie ihr Leben und ihren Tod erfahren." (Yoshimoto 2012,192)

Vor nunmehr fast 7 Jahren erschien in den Niederlanden ein Buch, das schon damals für einiges mediales Aufsehen gesorgt hat. Stella Braam, Journalistin, hat gemeinsam mit ihrem Vater, dem Psychologen René van Neer ein Buch über seine Demenzerkrankung verfasst. Nun ist es erstmals auf Deutsch erschienen und wird auch im deutschsprachigen Raum für einige Diskussionen sorgen.

Das Thema Alzheimer ist mittlerweile nicht nur am 21. September präsent - dem Weltayzheimer-Tag, sondern das ganze Jahr über. In Studien über Sorgen und Ängste der Bevölkerung steht das Thema Alzheimer noch vor Terror und Wirtschaftskollaps. Der vieldiskutierte Pflegenotstand wird gerade im Zusammenhang mit den steigenden Demenzzahlen heftig diskutiert. Mitte September 2016 wurde das Thema besonders breit diskutiert, beispielhaft: http://medizin-aspekte.de/globalisierung-hat-altenpflege-erreicht

Gerade hier kommt eine Publikation aus der Perspektive eines Demenzerkrankten gerade Recht. "Menschen mit Demenz werden immer noch nicht gut verstanden" (8) - das ist der Ausgangspunkt des Buches und der Leser/die Leserin wird von den beiden durch die letzten vier Jahre des Lebens von René van Neer geführt. 

Von den Schwierigkeiten, den Anfang zu erkennen

Bei Pompeius findet sich der Satz: "Wer das Haus eines Tyrannen betritt, wird zum Sklaven, selbst wenn er zuvor keiner war." Die Alzheimer-Erkrankung schafft sich ihre Untergebenen - durch die Persönlichkeitsveränderungen der Erkrankten und die Struktur der Erkrankung selbst. 

Auch in diesem Buch wird betont, dass die Zeichen von Demenz erst sehr spät realisiert werden. Die immer umfassendere Desintegration der Persönlichkeit hat einen schleichenden Beginn und äußert sich in Momenten des Gedächtnisverlustes, in Sprech- und Verstehensschwierigkeiten, darin, dass Dinge und Menschen nicht mehr richtig erkannt werden, im Verlust des Zeitgefühls, in Stimmungsschwankungen und in Charakterveränderungen (vgl. 20). "Der Prozess verläuft schleichend, so langsam, dass man ihn anfangs nicht wahrnimmt. Erst im Nachhinein erkennt man die Signale." (20)

Mit diesem schleichenden Beginn ist aber auch das Problem der Früherkennung der Alzheimer-Erkrankung benannt - noch immer gibt es keine gesicherte Früherkennung dieser  Krankheit und damit auch immer noch keine Sicherheit bezüglich der Diagnose. Persönlichkeitsveränderungen werden daher leicht als intentionale Phänomene wahrgenommen, als Böswilligkeit, Unzufriedenheit, Launenhaftigkeit. Alles Zuschreibenden, die ein harmonisches Zusammenleben erschweren.

Und mit der Diagnosestellung wird es oft nicht besser - immer wieder offenbaren sich geläufige Vorurteile gegenüber Demenzerkrankten: Sie würden nichts mehr begreifen, wären weniger Wert als andere, stellen sich als nicht kommunikativ heraus, wären per Definition unwillig, würden durch ihre Erkrankung jeden Glanzes in ihrem Leben beraubt und bar jeder Hoffnung. (vgl. 67).

Was stimmt ist, dass mit dem Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung auch eine Persönlichkeitsveränderung stattfindet: Depressionen, Apathie, Erregung, Psychosen, Halluzinationen und Ruhelosigkeit sind Verhaltensänderungen, die immer wieder bei Alzheimer-Erkrankten zu beobachten sind (vgl. 108). Vielleicht wäre es besser, diese Veränderungen als adaptive Störungen zu sehen, die durch den spürbaren Kontroll- und Orientierungsverlust bedingt sind. Die Erkrankung stellt die Welt der Betroffenen komplett auf den Kopf - die Verhaltensänderungen sind der Versuch Halt zu finden und mit diesem Wandel Schritt zu halten. 

Aber auch hier gilt das Diktum von Eric Hoffer: "Viel entscheidender, als das, was wir wissen oder nicht wissen, ist das, was wir nicht wissen wollen." (zitiert nach Gramellini 2014, 5)

Forderungen eines Demenzerkrankten - Grenzen des persönlichen Engagements

René van Neer hat einen Forderungskatalog aufgestellt: 

(1) Emanzipation von Menschen mit Alzheimer
(2) Es muss etwas gegen die "Demenz-Explosion" getan werden
(3) Wünsche der Demenzerkrankten müssen im Mittelpunkt der Pflege stehen
(4) Jedem Demenzerkrankten sollte in eigener Pfleger zur Seite gestellt werden
(5) Auch Demenzerkrankte haben ein Recht auf Privatheit
(6) Demenzerkrankte haben ein Recht auf Freiheit
(7) Demenzerkrankte haben ein Recht auf die Verfügung über ihr Leben und ihre Zeit, sie sind nicht willensunfähig
(8) Die medikamentöse Ruhigstellung von Demenzerkrankten sollte verboten werden
(9) Demenzerkrankte sollten jeden Tag ausgiebig schmausen dürfen
(10) Demenzerkrankte sollten ein Recht auf freiwillige Euthanasie haben

Dieser Katalog birgt eine Reihe von Widersprüchen und Inkonsequenzen, auf die ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen möchte. Ich nehme ihn aber durchaus zum Anlass, um darauf aufmerksam zu machen, dass in der Betreuung und im Umgang mit Demenzerkrankten noch vieles besser gemacht werden kann - "Das Leben ist ein ewiges Problem." (Flaubert 2005, 378)

Das Buch ist insgesamt eher von einem "Ich klage an"-Duktus getragen - die Innenperspektive von René van Neer wird durch nicht viel mehr als zusammengetragene Sätze und Gesprächsteile deutlich. Wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn die eigene Persönlichkeit erodiert, darüber bekommt man durch das Buch kaum eine Ahnung - seine Stärken liegen woanders: Wichtige Themen in der Pflege und Betreuung von Demenzerkrankten werden zur Sprache gebracht, strittige Aspekte finden sich in die Alzheimergeschichte des Protagonisten eingebettet: Euthanasie, Freiheitsbeschränkung, medikamentöse Ruhigstellung, Pflegesicherheit. 

Alles in allem ein sehr interessantes Buch, das leider nicht ganz halten kann, was der Titel verspricht. 

Harald G. Kratochvila, Wien


Verwendete Literatur:

Flaubert, G. (2005 [1830-1880]). Briefe. Zürich (SUI), Diogenes Verlag

Geiger, A. (2015 [2011]). Der alte König in seinem Exil. München (GER), dtv (das Hokusai-Zitat aus der Überschrift findet sich auf Seite 5)

Gramellini, M. (2014 [2012]). Träum was Schönes. München (GER), Piper Verlag 

Yoshimoto, B. (2012 [2008]). Ihre Nacht. Zürich (SUI), Diogenes Verlag