„Noch das ganze Leben“ – Eine Rezension zum Buch „Teo“ von Lorenza Gentile
Lorenza Gentile (2015 [2014]). Teo. München (GER), Deutscher Taschenbuch Verlag
Aus
dem Italienischen von Annette Kopetzki
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Deutschen Taschenbuch Verlag zur Verfügung
gestellt – www.dtv.de
Die Buchseite des Verlages:
www.dtv.de/buecher/teo_28051.html
Die Buchseite des Verlages:
www.dtv.de/buecher/teo_28051.html
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Roman, Sterben, Suizid, Kinder, Eheprobleme,
Krise, Lebenskompetenz, Rezension
Über das Leben und seine Facetten
Krisen sind demnach keine vorgebildeten Ereignisse,
mit denen wir konfrontiert werden – sie sind vielmehr Konsequenzen aus unserem
routinierten Fühlen, Denken und Handeln. Das Leben, wie wir es leben, ist ein
fortlaufender Bewertungsprozess, mit dessen Hilfe wir den Lebensereignissen
Bedeutung verleihen. Für manche zeigt sich in diesen Bewertungsprozessen
eine zweifache Motivquelle: „Für die Handlungen des Menschen gibt es im Grunde
nur zwei Motivationen: Liebe und Angst. Die Wahl liegt bei ihnen.“ (Lietaer 2000, 314) Diese zwei
Motivquellen stehen damit auf dem ein und demselben Grund: der
Entscheidungsfreiheit des Individuums.
Wir schaffen unser individuelles Leben durch die
Erfahrungen und Perspektiven, denen wir uns aussetzen und die wir einnehmen - „
… ein Individuum, ein Mensch mit einer eigenen Geschichte und Weltsicht.“ (Miller 2010, 57) Diese Lebensgestaltung
wird stets eine Herausforderung bedeuten und uns auch jederzeit daran erinnern,
„… dass Realität nie ohne Schmerz erfahrbar ist ...“ (Bennent-Vahle 2011, 269)
Aus diesem individuellen Lebensvollzug entsteht in
Rückschau das, was auch als „ein Leben zu führen“ verstanden werden kann – und
damit liegt auch ein Begriff nahe, der für viele einen besonderen Wert
darstellt – der Begriff der Identität. „Identität ist nichts anderes als ein
Echoraum, in dem Eigenes mit Fremden korrespondiert und das Eine ins Andere
hinüberspielt.“ (Dean 2015, 28)
Identität bildet sich an den Grenzen des Inneren und
Äußeren heraus und vielleicht ist Identität gerade das Schnittmuster, das sich
aus dem Übergehen des einen und des anderen ergibt. In einem anderen Kontext
wird dieses Schnitt- oder Schliffmuster auch Facette genannt - http://zwei.dwds.de/wb/Facette (Digitales
Wörterbuch der Deutschen Sprache). Und Facette kommt vom Begriff „face“ – Gesicht.
Identität, Individualität – dem Leben ein Gesicht
geben …
Zur Autorin
Lorenza Gentile ist eine vielseitig interessierte, junge
Autorin (Jg. 1988) aus Mailand in Italien. Die letzten Jahre verbrachte sie in
London und Paris, wo sie Theaterwissenschaft studierte. Sie ist Jazztänzerin,
führt Regie zeichnet und vor allem: schreibt. Näheres findet sich hier: www.lorenzagentile.com
Für ihren Debütroman erhielt sie bereits in Italien
Preise – zuletzt wurde sie in Wien mit dem Kritikerpreis 2015 der Kritikerjury
ausgezeichnet - www.juryderjungenleser.at
Im Zuge ihres Wienaufenthalts habe ich sie am 24. Juni
kennengelernt und mich mit ihr über ihre Ideen und Vorstellungen zu ihrem Buch
unterhalten. Dieses Treffen hat Thomas Zirnbauer möglich gemacht, bei dem ich
mich an dieser Stelle nochmals bedanken möchte.
Zum Buch
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt – ein kleiner
Junge sieht sich der Situation ausgesetzt, dass sich seine Eltern nicht mehr
verstehen, dass die Beziehung zwischen ihnen von Streitereien und
Respektlosigkeiten geprägt ist. Seine ältere Schwester scheint sich dieser
Situation vor allem durch Aufsässigkeit zu stellen – Teo, der Protagonist des
Romans sucht einen anderen Weg – einen aktiven Weg aus seiner schwierigen Lage,
die von sozialer Isolation, Schulschwierigkeiten, Selbstvorwürfen, eigener
Abwertungen und innerer Leere geprägt ist.
Das Buch erzählt von den Gedanken und Überlegungen,
Anstrengungen und Versuchen des kleinen Teos, die Konflikte zwischen seinen
Eltern zu lösen. Ein Buch, das er zu seinem Geburtstag von seinen Eltern
geschenkt bekommen hat, bringt ihn auf den historischen Helden Napoleon
Bonaparte und damit auf den Gedanken, dass der heroische Napoleon sicherlich
dabei helfen könnte, Teos Eltern wieder friedlich zu vereinen. In den Worten
von Teo: „In meiner Familie sind alle traurig, und darum ist mir klar geworden,
wofür ich eine Schlacht kämpfen und gewinnen muss, nämlich für das, was ich
lieber möchte als alles andere … Dass sie wieder glücklich sind.“ (Gentile 2015, 159) Teo muss also
Napoleon zum Gespräch bitten – Napoleon ist tot – Teo muss sterben um seinen
Retter treffen zu können …
Teo lernt aber noch etwas anderes: So lernt er
beispielsweise von seiner Mutter „dass Gott unsichtbar ist, aber uns Menschen
Zeichen sendet, damit wir seine Anwesenheit merken können.“ (Gentile 2015, 81) Diese Zeichen können
Ereignisse oder Begebenheiten sein, die uns durchaus ungewöhnlich erscheinen.
Jedenfalls müssen sie verstanden und gedeutet werden. Das Unsichtbare sichtbar
zu machen – diese Aufgabe wird in dem Roman der Kunst zugeschrieben. Napoleon
hat viele Facetten – „Wie diese Porträts zeigen, gibt es keinen richtigen
Napoleon. Und wenn du dir all die Bildnisse vorstellst, die man von ihm hätte
machen können, aber nicht gemacht hat, wird dir bewusst, dass es unendlich
viele Napoleons gibt.“ (Gentile 2015,
141/142)
Welchen Napoleon findet Teo für sich? Das soll an dieser
Stelle nicht verraten werden.
Dennoch: Die Kunst macht anschaulich, wie wir
Vorstellungen als Projektionsflächen sehen können. Damit gibt sie uns Aktivität
und Verantwortung zurück, die wir als Rezipienten von Kunst gerne abgeben,
indem wir meinen, die Welt wäre so, wie wir sie gerade vor uns sehen.
Teo sucht eine konkrete Lösung für sein familiäres
Problem und wird dabei auf seine eigene Subjektivität zurückgeworfen … und gleich
dem bekannten Popsong von Mariah Carey – Hero (1993) könnte man abschließend
sagen: „It’s a long
road, when you face the world alone, no one reaches out a hand, for you to
hold, you can find love, if you search within yourself, and the emptiness you
felt, will disappear“ (das offizielle Video davon gibt es auf dem Kanal von
Mariay Carey: https://www.youtube.com/watch?v=0IA3ZvCkRkQ&list=RDHvKTbe5OLkM&index=9)
Fazit
Lorenza
Gentile erzählt in ihrem Buch von Teo eine fast religiöse Geschichte – eine
Geschichte von Zeichen und deren Decodierung, von der Bedeutung historischer
Einsichten und vor allem eine Geschichte von der individuellen Autorenschaft
des eigenen Lebens. „Das Geheimnis ist, dass man niemals glauben darf, man wäre
zu klein.“ (Gentile 2015, 193) Der
Autorin ist eine berührende Erzählung gelungen, die den Leser daran erinnert,
nicht nur selbst auf Zeichen zu warten, sondern auch selbst Zeichen zu setzen.
In beiden Fällen ist es aber notwendig, das, was man in der Welt erlebt, auch
in seine eigene Sprache zu übersetzen: „Lerne auch du, die Sprache der Zeichen
zu lesen.“ (Gentile 2015, 193)
Und
dann? „Noch das ganze Leben“
„Ich
muss mir nur vorstellen, dass mein Leben ein Buch ist und jeder Tag eine Seite,
und wenn ich von heute umblättere, steht da geschrieben: Noch das ganze Leben“
(Gentile 2015, 195)
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Bennent-Vahle, H. (2011). Glück kommt von Denken - Die
Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag
Herder
Dean, M. R. (2015). Verbeugung vor Spiegeln - Über das
Eigene und das Fremde. Salzburg (AUT) & Wien (AUT), Jung und Jung
Lietaer, B. A. (2000 [1999]). Mysterium Geld -
Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus. München (GER), Riemann
Verlag
Miller, D. (2010 [2008]). Der Trost der Dinge - Fünfzehn
Porträts aus dem London von heute. Berlin (GER), Suhrkamp Verlag
Wittgenstein, L. (1989 [1969]). Philosophische
Grammatik. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag