Dienstag, 30. Juni 2015

Rezension: Lorenza Gentile - Teo


„Noch das ganze Leben“ – Eine Rezension zum Buch „Teo“ von Lorenza Gentile 


Lorenza Gentile (2015 [2014]). Teo. München (GER), Deutscher Taschenbuch Verlag
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Das Buch wurde freundlicherweise vom Deutschen Taschenbuch Verlag zur Verfügung gestellt – www.dtv.de 

Die Buchseite des Verlages:
www.dtv.de/buecher/teo_28051.html

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Roman, Sterben, Suizid, Kinder, Eheprobleme, Krise, Lebenskompetenz, Rezension 

Über das Leben und seine Facetten 

http://www.dtv.de/_cover/165/teo-9783423280518.jpgKrisen sind besondere Ereignisse in unserem Leben – darin kommt es zumeist zu einer Neubewertung unserer Verhaltensroutinen oder zu einer Neuorientierung an Zielen oder Entwicklungsschritten. Dabei sollte aber etwas Wichtiges nicht übersehen werden: „Es ist uns schwer, von dem Vergleich loszukommen: Der Mensch tritt ein – das Ereignis tritt ein. Als wäre das Ereignis schon vorgebildet vor der Tür der Wirklichkeit und würde nun in diese (wie in ein Zimmer) eintreten.“ (Wittgenstein 1989, 137)

Krisen sind demnach keine vorgebildeten Ereignisse, mit denen wir konfrontiert werden – sie sind vielmehr Konsequenzen aus unserem routinierten Fühlen, Denken und Handeln. Das Leben, wie wir es leben, ist ein fortlaufender Bewertungsprozess, mit dessen Hilfe wir den Lebensereignissen Bedeutung verleihen. Für manche zeigt sich in diesen Bewertungsprozessen eine zweifache Motivquelle: „Für die Handlungen des Menschen gibt es im Grunde nur zwei Motivationen: Liebe und Angst. Die Wahl liegt bei ihnen.“ (Lietaer 2000, 314) Diese zwei Motivquellen stehen damit auf dem ein und demselben Grund: der Entscheidungsfreiheit des Individuums.

Wir schaffen unser individuelles Leben durch die Erfahrungen und Perspektiven, denen wir uns aussetzen und die wir einnehmen - „ … ein Individuum, ein Mensch mit einer eigenen Geschichte und Weltsicht.“ (Miller 2010, 57) Diese Lebensgestaltung wird stets eine Herausforderung bedeuten und uns auch jederzeit daran erinnern, „… dass Realität nie ohne Schmerz erfahrbar ist ...“ (Bennent-Vahle 2011, 269)

Aus diesem individuellen Lebensvollzug entsteht in Rückschau das, was auch als „ein Leben zu führen“ verstanden werden kann – und damit liegt auch ein Begriff nahe, der für viele einen besonderen Wert darstellt – der Begriff der Identität. „Identität ist nichts anderes als ein Echoraum, in dem Eigenes mit Fremden korrespondiert und das Eine ins Andere hinüberspielt.“ (Dean 2015, 28)

Identität bildet sich an den Grenzen des Inneren und Äußeren heraus und vielleicht ist Identität gerade das Schnittmuster, das sich aus dem Übergehen des einen und des anderen ergibt. In einem anderen Kontext wird dieses Schnitt- oder Schliffmuster auch Facette genannt - http://zwei.dwds.de/wb/Facette (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache). Und Facette kommt vom Begriff „face“ – Gesicht.

Identität, Individualität – dem Leben ein Gesicht geben … 

Zur Autorin

Lorenza Gentile ist eine vielseitig interessierte, junge Autorin (Jg. 1988) aus Mailand in Italien. Die letzten Jahre verbrachte sie in London und Paris, wo sie Theaterwissenschaft studierte. Sie ist Jazztänzerin, führt Regie zeichnet und vor allem: schreibt. Näheres findet sich hier: www.lorenzagentile.com 

Für ihren Debütroman erhielt sie bereits in Italien Preise – zuletzt wurde sie in Wien mit dem Kritikerpreis 2015 der Kritikerjury ausgezeichnet - www.juryderjungenleser.at 

Im Zuge ihres Wienaufenthalts habe ich sie am 24. Juni kennengelernt und mich mit ihr über ihre Ideen und Vorstellungen zu ihrem Buch unterhalten. Dieses Treffen hat Thomas Zirnbauer möglich gemacht, bei dem ich mich an dieser Stelle nochmals bedanken möchte. 

Zum Buch

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt – ein kleiner Junge sieht sich der Situation ausgesetzt, dass sich seine Eltern nicht mehr verstehen, dass die Beziehung zwischen ihnen von Streitereien und Respektlosigkeiten geprägt ist. Seine ältere Schwester scheint sich dieser Situation vor allem durch Aufsässigkeit zu stellen – Teo, der Protagonist des Romans sucht einen anderen Weg – einen aktiven Weg aus seiner schwierigen Lage, die von sozialer Isolation, Schulschwierigkeiten, Selbstvorwürfen, eigener Abwertungen und innerer Leere geprägt ist. 

Das Buch erzählt von den Gedanken und Überlegungen, Anstrengungen und Versuchen des kleinen Teos, die Konflikte zwischen seinen Eltern zu lösen. Ein Buch, das er zu seinem Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen hat, bringt ihn auf den historischen Helden Napoleon Bonaparte und damit auf den Gedanken, dass der heroische Napoleon sicherlich dabei helfen könnte, Teos Eltern wieder friedlich zu vereinen. In den Worten von Teo: „In meiner Familie sind alle traurig, und darum ist mir klar geworden, wofür ich eine Schlacht kämpfen und gewinnen muss, nämlich für das, was ich lieber möchte als alles andere … Dass sie wieder glücklich sind.“ (Gentile 2015, 159) Teo muss also Napoleon zum Gespräch bitten – Napoleon ist tot – Teo muss sterben um seinen Retter treffen zu können …

Teo lernt aber noch etwas anderes: So lernt er beispielsweise von seiner Mutter „dass Gott unsichtbar ist, aber uns Menschen Zeichen sendet, damit wir seine Anwesenheit merken können.“ (Gentile 2015, 81) Diese Zeichen können Ereignisse oder Begebenheiten sein, die uns durchaus ungewöhnlich erscheinen. Jedenfalls müssen sie verstanden und gedeutet werden. Das Unsichtbare sichtbar zu machen – diese Aufgabe wird in dem Roman der Kunst zugeschrieben. Napoleon hat viele Facetten – „Wie diese Porträts zeigen, gibt es keinen richtigen Napoleon. Und wenn du dir all die Bildnisse vorstellst, die man von ihm hätte machen können, aber nicht gemacht hat, wird dir bewusst, dass es unendlich viele Napoleons gibt.“ (Gentile 2015, 141/142)

Welchen Napoleon findet Teo für sich? Das soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Dennoch: Die Kunst macht anschaulich, wie wir Vorstellungen als Projektionsflächen sehen können. Damit gibt sie uns Aktivität und Verantwortung zurück, die wir als Rezipienten von Kunst gerne abgeben, indem wir meinen, die Welt wäre so, wie wir sie gerade vor uns sehen.
Teo sucht eine konkrete Lösung für sein familiäres Problem und wird dabei auf seine eigene Subjektivität zurückgeworfen … und gleich dem bekannten Popsong von Mariah Carey – Hero (1993) könnte man abschließend sagen: „It’s a long road, when you face the world alone, no one reaches out a hand, for you to hold, you can find love, if you search within yourself, and the emptiness you felt, will disappear“ (das offizielle Video davon gibt es auf dem Kanal von Mariay Carey: https://www.youtube.com/watch?v=0IA3ZvCkRkQ&list=RDHvKTbe5OLkM&index=9) 

Fazit

Lorenza Gentile erzählt in ihrem Buch von Teo eine fast religiöse Geschichte – eine Geschichte von Zeichen und deren Decodierung, von der Bedeutung historischer Einsichten und vor allem eine Geschichte von der individuellen Autorenschaft des eigenen Lebens. „Das Geheimnis ist, dass man niemals glauben darf, man wäre zu klein.“ (Gentile 2015, 193) Der Autorin ist eine berührende Erzählung gelungen, die den Leser daran erinnert, nicht nur selbst auf Zeichen zu warten, sondern auch selbst Zeichen zu setzen. In beiden Fällen ist es aber notwendig, das, was man in der Welt erlebt, auch in seine eigene Sprache zu übersetzen: „Lerne auch du, die Sprache der Zeichen zu lesen.“ (Gentile 2015, 193)
Und dann? „Noch das ganze Leben“

„Ich muss mir nur vorstellen, dass mein Leben ein Buch ist und jeder Tag eine Seite, und wenn ich von heute umblättere, steht da geschrieben: Noch das ganze Leben“ (Gentile 2015, 195)

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Bennent-Vahle, H. (2011). Glück kommt von Denken - Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder

Dean, M. R. (2015). Verbeugung vor Spiegeln - Über das Eigene und das Fremde. Salzburg (AUT) & Wien (AUT), Jung und Jung

Lietaer, B. A. (2000 [1999]). Mysterium Geld - Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus. München (GER), Riemann Verlag

Miller, D. (2010 [2008]). Der Trost der Dinge - Fünfzehn Porträts aus dem London von heute. Berlin (GER), Suhrkamp Verlag

Wittgenstein, L. (1989 [1969]). Philosophische Grammatik. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

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