Donnerstag, 16. Juli 2015

Rezension: Klaus Theweleit – Das Lachen der Täter


Ein kritischer Blick auf Legitimationsversuche individueller und kollektiver Gewalt


Klaus Theweleit (2015). Das Lachen der Täter: Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten (AUT), Residenz Verlag

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.residenzverlag.at
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Kriegsverbrechen, Gewalt, Aggression, Terror, menschliches Verhalten, Moralität, Aufklärung, Lebenskompetenz, Rezension 

Individuelle und kollektive Gewalt im Angesichts des Lachens 

Klaus Theweleit - Das Lachen der TäterBerichte über individuelle und kollektive Gewalt sind mediales Tagesgeschäft. Besonders grausame Verbrechen werden in Wochenmagazinen näher beleuchtet. Gewaltverbrechen mit einem ideologischen Hintergrund werden sogar in Monatsmagazinen analysiert und aufbereitet. Die sogenannten religiös-motivierten Gewaltorgien dominieren die Medien mittlerweile 24/7 – doch bereits hier sind Differenzierungen notwendig. Die Häufigkeit, mit der medial über gewalttätige Migranten berichtet wird, ist nicht den gesellschaftlichen Realitäten entsprechend (Walburg 2014). Die Prävalenz von Psychopathie liegt über die Jahre stabil bei unter 5% (vgl dazu: „im Justizvollzug der USA 15-20 % der Gefangenen, diese seien für 50 % der schweren Delikte verantwortlich“ Müller 2012). Und wenn jemand seine Verbrechen mit ideologischen oder religiösen Motiven schmückt, dann entlässt ihn das nicht aus der Schuld – diese lässt sich nicht so einfach den Ideen oder Systemen zusprechen.

Deutlich wird aber, dass es so etwas wie Legitimationsversuche individueller und kollektiver Gewalt gibt. „Das Lachen der Täter“ ist selbst noch kein solcher Versuch, aber es ist als Zeichen deutbar. Klaus Theweleit hat sich in seinem aktuellen Buch den Tätern auf die Spur gemacht und versucht ein Psychogramm derjenigen Männer zu erstellen, die in den letzten Jahren durch brutale Morde auffällig geworden sind – entweder als Einzeltäter, wie Anders Breivik, oder als Kollektive, wie fanatisierte Selbstmordattentäter, Terroristen und Kindersoldaten.
Dabei lenkt er den Blick auch auf die medialen Inszenierungen, die entweder von den Tätern selbst geliefert, oder von Berichterstattern stammen. Doch alles der Reihe nach … 

Zum Autor

Klaus Theweleit beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Theorien zur Gewalt in ihren verschiedensten Ausprägungen. Bereits seine Dissertation war der Freikorpsliteratur gewidmet. Einem breiteren Publikum wurde er bekannt mit seiner Veröffentlichung „Männerphantasien“, die aus seiner bereits erwähnten Dissertation entstanden ist. Er teilt sein Wissen in Vorträgen und Publikationen - Lehraufträge in Deutschland, den USA, der Schweiz und Österreich. „Arbeitsschwerpunkte: Wörter, Töne, Bilder.Faschismustheorie. Theorie der Gewalt. Gender Studies. Theorie der Medien. Popkultur. Film. Kunst und Macht. Pocahontas. Geschichte(n) zur (fortdauernden) Erfindung Amerikas und zu den (fortdauernden) Kolonialismen.“ (siehe www.klaus-theweleit.de – zuletzt aufgerufen am 13.07.2015)

Ein Interview mit dem Südwestdeutschen Rundfunk zum vorliegenden Buch findet sich hier: www.youtube.com/watch?v=1nIih87pwrA (zuletzt aufgerufen am 13.07.2015) 

Das Lachen der Täter

„Dieses Buch ist zum großen Teil gemacht aus Zeitung; geschrieben entlang aktueller Zeitungsberichte über die in „politischen“ sowie „religiösen“ Kontexten verübten Mordtaten der letzten Jahre und Jahrzehnte.“ (Theweleit 2015, 245) Die apostrophierten Begriffe zeigen an, dass sowohl Politik als auch Religion gerne als Orientierungspunkte verwendet werden – von den Gewalttätern wie auch von den Rezipienten und Beobachtern.
Das Buch folgt keiner strengen Ordnung in Kapitel, sondern greift auf vielfältige Versatzstücke zurück. Es gibt sich entwickelnde Teile unter dem Titel „Lachen“, genauso wie unter dem Titel „Theorie“ und dazu historische Einfügungen z.B. über Srebrenica, das ja vor wenigen Tagen Schauplatz einer Gedenkveranstaltung gewesen ist und dabei auch erkennen ließ, wie tief die Wunden noch immer sind (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/vu-i-besuch-in-srebrenica-schuld-und-versoehnung-13699007.html).

Dem Buch nähert man sich am besten durch seinen Schluss, den ich hier in extenso wiedergeben möchte: „Der Schluss: All dies sind nicht einfach „wissenschaftliche“ Probleme; auch nicht „journalistische“ und auch nicht einfach politische. Kein „Politiker“, kein „Wissenschaftler“, kein „Journalist“, keine „Analytikerin“ kann irgendetwas davon dauerhaft lösen. „Wir“ (die „Wirs“ aller Sorten) müssen das im Alltag tun. Dort „lösen“ sich bekanntlich selten (oder: nie) Probleme. Sie werden beackert, hin- und hergeschoben; verdrängt, überlagert vom „jeweils“ alltäglich Nächstliegenden. Was „auf den Nägeln brennt“, ruft nach Bearbeitung (& wird erst recht verdrängt). Und dann, Hals über Kopf, entschieden. (Hals über Kopf!) „Lösungen“ zeichnen sich nur da ab, wo die Haut der Andern – grundsätzlich und selbstverständlich – geachtet und verschont wird. In Annäherung, oder auch freundlich auf Distanz gehalten: „Gehalten!“ While others say don’t hate nothing at all except hatred.“ (Theweleit 2015, 233)

Wie sagte schon Wilhelm Busch: ’’Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten.‘‘

Das Lachen der Täter wird von Klaus Theweleit als „Abzeichen des Killers“ verstanden (Theweleit 2015, 7). „Der Killer lächelt, lacht und tobt sich aus … Der Killer triumphiert.“ (Theweleit 2015, 11) In seinen historischen und aktuellen Beispielen liefert er Beschreibungen, wie sich dieses Lachen äußert – in welchem Rahmen es sich abspielt. Dieses Lächeln, Lachen wird vom Autor als innere Befreiung beschrieben – „die erlaubte Übertretung ins Verbrecherische wirkt als emotive Befreiung. Und diese wird gefeiert mit exzessivem Lächeln.“ (Theweleit 2015, 51) Diese angesprochenen Folter- und Tötungsakte werden mittels vier Elementen beschrieben: zunächst der straflos durchgeführte Strafakt, seine Ausstellung (=staging), seine mit einem Lachen begangene Feier und der bejubelte Zusammenschluss mit einer übergeordneten größeren Organisation. (Theweleit 2015, 51 ff.) Bürgerkriege, Terroranschläge, offene Gewaltverbrechen – Klaus Theweleit dokumentiert die Spuren der Gewalt – dabei nutzt er eine Vielzahl von Quellen und führt auf diese Weise ein umfassendes Bild vor, das dieses Lachen der Täter mit anderen Augen sehen lässt. 

Fazit

Alles in allem ist es ein verstörendes Buch – wie ein Dokumentarfilmer folgt Klaus Theweleit den Spuren der Gewalt und liefert seinen eigenen theoretischen Beitrag sozusagen aus dem Off (in seinen Theorieteilen). Seine Betrachtungen verstören – wie in einem Kaleidoskop kommen immer neue Facetten zum Vorschein, mit dem gemeinsamen Betrachtungspunkt – „Das Lachen der Täter.“ (Theweleit 2015, 245)


Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Müller, H. E. (2012). Die PCL-R von Hare aus kriminologischer und strafprozessrechtlicher Sicht. Vortrag zum 3. Tag der Rechtspsychologie

Walburg, Ch. (2015). Migration und Jugenddelinquenz - Mythen und Zusammenhänge. (http://mediendienst-Integration.de/fileadmin/Dateien/Gutachten_Kriminalitaet_Migration_Walburg.pdf - zuletzt aufgerufen am 13.07.2015)

Sonntag, 12. Juli 2015

Rezension: Cem Ekmekcioglu – Drück mich mal

Was Körpererinnerungen und Berührungserfahrungen mit uns machen

Cem Ekmekcioglu (2015) Drück mich mal. Warum Berührungen so wichtig für uns sind. Frankfurt/Main (GER), Westend Verlag

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt: www.westendverlag.de

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Berührung, Emotion, Depression, Einsamkeit, Lebenskompetenz, Rezension 

Der vernachlässigte 5. Sinn: Der Tastsinn – Berührungen und Körperlichkeiten

Harald G. Kratochvila - Rezension: Cem Ekmekcioglu - Drück mich malBis vor einiger Zeit hätte ich nicht gewusst, was ich von Männern und Frauen halten soll, die sich auf öffentlichen Plätzen hinstellen und Passanten mit ihren Schildern zu verstehen geben, dass es bei ihnen Gratis-Umarmungen, sogenannte free hugs, abzuholen gäbe. Ich hätte mich wahrscheinlich darüber gewundert, was es wohl mit diesem Angebot zum Körperkontakt auf sich hat – eine Flirtidee, eine besonders dreiste Form des angekündigten Taschendiebstahls? 

Hinter dieser Idee steht ein Mann, eine Erfahrung und viel Engagement. Juan Mann – Ein Interview mit ihm findet sich hier: www.philosophyblog.com.au/interview-with-juan-mann-free-hugs-campaign
Die offizielle Seite dazu: www.freehugscampaign.org

In aufrichtigen Berührungen fallen Distanzen zusammen, werden Unterschiede nivelliert und Menschen begegnen einander auf Augenhöhe. Berührungen betonen die eigene Verletzlichkeit genauso, wie die individuelle Macht, die man in sie hineinlegen kann. Das ist wichtig, denn es hat sich herausgestellt, „ … dass es die Kleinigkeiten sind, die das menschliche Leben ausmachen.“ (zitiert nach Karl L. Holtz in Short/Weinsprach 2010, 39) „Drück mich mal“ – schenke mir Deine Nähe … 

Zum Autor

Cem Ekmekcioglu ist Physiologe und lehrt und forscht am Zentrum für Public Health an der Medizinischen Universität Wien - http://zph.meduniwien.ac.at. Er befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen zur Ernährung und zur gesunden Lebensweise. Sein Wissen teilt er in Büchern, wissenschaftlichen Arbeiten und Vorträgen – und auch auf seiner homepage: www.ekmekcioglu.at. Seine vielfältigen Interessen finden sich darauf ebenso dokumentiert, wie seine Bemühungen Menschen zu einem gesünderen Lebensstil zu verhelfen. 

Hau(p)tsache Berührung –Zum Inhalt des Buches

In fünf Kapiteln plädiert Cem Ekmekcioglu für einen bewussten Umgang mit Berührungen und der Mächtigkeit, die in ihnen steckt. Sein Ausgangsbefund: In unserer Gesellschaft herrscht Berührungsarmut bzw. Berührungslosigkeit – viele Menschen würden ihren technischen Geräten mehr Berührungen zukommen lassen, als den Menschen in ihrer Nähe (Stichwort: Touchscreens). Seine Grundüberzeugung lautet – „Berührung ist Leben“ und dementsprechend lautet auch die erste Kapitelüberschrift. In ihm legt er dar, welche Unterschiede es zwischen den fünf Sinnen gibt und zeigt, dass der Berührungssinn ein Sinn der Nähe ist (vgl. Ekmekcioglu 2015, 24). Der Berührungssinn (Tastsinn) ist ein reziproker Sinn, ein Sinn, der nur in beide Richtungen funktioniert – wer berührt, wird berührt: „Von unseren fünf Sinnen ist der Tastsinn außerdem der einzige, der ausnahmslos in beide Richtungen funktioniert.“ (ebd.) Dieser Bedeutung, die Berührungen für uns haben, genauer auf die Spur zu kommen ist Aufgabe des zweiten Kapitels. Es beschreibt Berührungsformen und führt auch den Begriff der Körpererinnerung ein. Es wird näher beschrieben, inwieweit „Berührung beruhigt“ (Ekmekcioglu 2015, 42) und welche Auswirkungen Berührungen auf Menschen haben können. „Berührungen sind extrem mächtig“ (Ekmekcioglu 2015, 55/56) – sie nehmen Einfluss auf unsere Stimmungen, Emotionen, Erinnerungen, sie tragen dazu bei, dass unser leid gelindert wird, sie sprechen das Unbewusste an und sind eine sehr direkt wirkende Unterstützung unserer Kommunikation. In diesem Kapitel kommen auch Phänomene zur Sprache, die vom Autor „der manipulative Touch“ genannt werden. Das dritte Kapitel greift den Ausgangsbefund wieder auf und vertieft das Thema der Berührungslosigkeit. In ihm spricht er von positiven und negativen Berührungserfahrungen und den Einfluss, den unsere frühen Berührungserfahrungen für unser weiteres Leben haben können. „Liebevolle Berührungen sind die Süße unserer Existenz: Aufgezwungene Berührungen bittere Lebertran in unserem Leben.“ (Ekmekcioglu 2015, 82) Die Mächtigkeit der Berührungen rührt an unserem Selbstbild und an unserer Identitätserfahrung. Berührungserfahrungen sind eng mit Körpererinnerungen verbunden und lösen demnach auch solche Erinnerungen wieder aus. Allgemeiner lenkt er unseren Blick auf sogenannte „high-touch und low-touch“ Kulturen und bringt damit die gesellschaftliche Perspektive in den Blick. Das nächste Kapitel liefert Anhaltspunkte für die These, dass Berührungsmangel tatsächlich krank macht. Cem Ekmekcioglu spricht hier auch von Einsamkeit und setzt Berührungsarmut und Einsamkeit in einen Zusammenhang: „Ein Mensch ist vor allem dann einsam, wenn seine Wünsche nach sozialen und körperlichen Kontakten nicht befriedigt werden. Mit der Einsamkeit kommen die emotionalen Probleme, von der Melancholie bis zu psychischen Erkrankungen.“ (Ekmekcioglu 2015, 23) Das abschließende Kapitel widmet sich dann ausführliche dem Geben und Nehmen von Berührungen. Es erwähnt die in der Einleitung vorgestellte Hugs-for-free Kampagne, es beschreibt Selbsterfahrungseminare zur Körperlichkeit, es lässt den Blick über Phänomen der Alltagskultur schweifen – Wie führen Menschen Beziehungen und welchen Stellenwert räumen sie dabei der Körperlichkeit ein? Was können Tiere als Therapeuten bewirken? Wie viel „drücken“ ist genug? – und bildet einen schönen Ausklang des Buches. Es betont aber auch: „Lieber keine Berührungen als falsche Berührungen.“ (Ekmekcioglu 2015, 178) Durch die ausführliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Berührungserfahrungen, Körpererinnerungen und der Macht von Berührungen ist sehr klar geworden, dass aufgezwungene Berührungen eine tiefe Verletzung der persönlichen Integrität und Identität bedeuten. 

Fazit

„Hätte ich nicht Momente von unbegründetem Optimismus in meinem Leben, ich könnte nicht weiterleben.“ (Reza 2002, 43) Umgelegt auf den Zusammenhang von Berührungen und Nähe, wie er in dem Buch von Cem Ekmekcioglu aufgebracht wird, könnte man sagen, dass Intimität und das Sich-Aufeinander-Einlassen wesentliche Komponenten eines gesunden Lebens sind – angenehme zärtliche Berührungen machen einen Gutteil des Optimismus aus, den wir Menschen so sehr brauchen um mit den Schwierigkeiten im Leben genauso klar zu kommen, wie mit dem Guten, das uns widerfährt. „Denken Sie einfach daran: Angenehme zärtliche Berührungen kosten nichts, bedürfen keines großen Kraftaufwands, sind an keinen Ort und keine Zeit gebunden und haben keine negativen Nebenwirkungen – ganz im Gegenteil.“ (Ekmekcioglu 2015, 182)

Cem Ekmekcioglu legt in seinem Buch sehr anschaulich dar, welche positiven Effekte Berührungen für uns haben, er macht sehr deutliche, was positive und negative Berührungserfahrungen für Bedeutungen für unser Wohlbefinden und vor allem für unser Selbstbild haben.

Dennoch kommen in seinem Buch auch ein paar Dinge zu kurz:
  • Gerade das Verhältnis von Intimität und körperlichen Berührungen wird nicht ausreichend expliziert. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass es sich bei dem Buch um kein psychologisches Buch handelt. So fehlen in manchen Beispielen, die der Autor beschreibt, die Querverbindungen zur psychologischen bzw. sozialpsychologischen Forschung zu kurz. Gerade in den Passagen, in denen die körperlichen Auswirkungen von Berührungen besprochen werden, bietet sich die Diskussion von Lernformen (emotionale Konditionierung) oder Assoziationsphänomenen (Priming und Priming-Effekten) an. Zum anderen fehlt eine genaue Bestimmung von Begriffen wie Nähe oder eben Intimität. Diese Bestimmungen würden bei der Klärung helfen, was es braucht, um Berührungen zu geben und auch zulassen zu können. Das ausführliche 5. Kapitel („Berührungen bekommen und genießen“) bleibt in dieser Hinsicht leider zu vage. (Empfehlenswert ist daher die Vertiefung des Intimitätsbegriffs bei Ruland 2015) 
  •  Leider hat der Autor auf eine Anführung von Quellenverweisen im laufenden Text verzichtet – „aus Gründen der besseren Lesbarkeit“. Ich teile diese Ansicht nicht. Fußnoten sind eine sehr effiziente Art und Weise Ideen und Quellen transparent zu machen. Die vom Autor bevorzugte Methode ist nicht praktikabel, noch dazu, wo sich die Endnoten nach dem Literaturverzeichnis befinden. Darüber hinaus, werden die Autoren in den Endnoten alphabetisch angeführt, nicht der Reihe ihres Vorkommens nach – ob sich eine Quellenangabe überhaupt in den Endnoten findet, ist im Fließtext auch nicht ersichtlich. 
Dennoch: Cem Ekmekcioglu ist im wahrsten Sinne des Wortes sehr berührendes Buch gelungen. Die gedankliche Spange – beginnend mit „Alle Menschen brauchen angenehme Berührungen“ bis hin zum Schlusssatz, der uns dazu auffordert Berührungen zu schenken (Ekmekcioglu 2015, 9 und 182 – das Zitat befindet sich ebenfalls im Fazit – überzeugt. Das Buch ist ein Plädoyer für Nähe und was es braucht, diese Nähe auch zu zeigen. „Berührungen sind die Essenz des Lebens.“ (Ekmekcioglu 2015, 107) – und wo sie geteilt werden, herrscht Lebendigkeit, Vertrauen wächst und Distanzen werden überwunden. Das Buch lässt sich als Metapher dafür lesen, dass Berührungen Anderssein begreifbar werden lassen und dass wir dabei auch uns besser begreifen lernen. Unsere Körpererinnerungen und unsere Berührungserfahrungen konstituieren auch unsere Identität und wenn wir ein wenig mehr darauf achten, wie wir mit Berührungen umgehen, dann lernen wir auch ein wenig mehr darüber, was wir brauchen und was wir uns vielleicht vorenthalten. Und wir das besser verstehen, dann kann es leicht möglich sein, dass wir lernen, was wir anderen mit unseren angenehmen, zärtlichen Berührungen an Freude und Anerkennung schenken könnten. Cem Ekmekcioglu hat mit seinem Buch einen sehr schönen Anstoß gegeben, sich der Macht der Berührungen bewusst zu machen und für seine Mitmenschen öfter offene Arme zu haben.

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Reza, Y. (2002 [1997]). Hammerklavier - Eine Sonate. München (GER), List Taschenbuch

Ruland, T. (2015). Die Psychologie der Intimität - Was Liebe und Sexualität miteinander zu tun haben. Stuttgart (GER), Klett-Cotta

Short, D. und C. Weinsprach (2010 [2007]). Hoffnung und Resilienz - Therapeutische Strategien von Milton H. Erickson. Heidelberg (GER), Carl-Auer Verlag

Donnerstag, 9. Juli 2015

Rezension: David Althaus - Zeig mir deine Wunde



Menschen erzählen von Verlust und Trauer

David Althaus (2015) Zeig mir deine Wunde – Geschichten von Verlust und Trauer. München (GER), Verlag C.H. Beck

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.beck.de

Buchseite des Verlages:
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Trauer, Schmerz, Tod, Suizid, Psychotherapie, Trauerarbeit, Lebenskompetenz, Rezension 

Unser Leben ist ein abschiedliches Leben – Trauer und ihr Platz in unserem Leben

David Althaus - Zeig mir Deine Wunde - Titelbild (Rezension HG Kratochvila)Menschen sind in ihrem Leben unausweichlich mit Verlusten und Abschieden konfrontiert – was liebgewonnen wurde, geht verloren oder muss aufgegeben werden. Abschied nehmen, Verluste ertragen – das sind Herausforderungen, denen wir uns im Leben jederzeit zu stellen haben. Die Verlustobjekte sind dabei sehr unterschiedlich – Menschen, Tiere, Gewohnheiten, der Arbeitsplatz, oder liebgewordenen Routinen, um die herum wir unser Leben organisiert haben. In diesem Netz aus dem, was wir liebgewonnen haben, fühlen wir uns manchmal sogar beengt. „We are prisoners of our minds to such an extent that rarely are we dissatisfied with them … We will only overcome certain obstacles on the path to solutions if we invest in our ignorances rather than endeavoring to maximize our certainties.” (Bonder 1999, 19) Wir nehmen es für gegeben an, was wir liebgewonnen haben. Ein plötzlicher Verlust, eine unvorhergesehene Wendung in unserem Leben und diese Sicherheit geht schnell verloren. „Die Aktivitäten eines Lebens werden von Prüfungen durchzogen, nicht nur von ihnen beeinflusst, und der Charakter dieser Aktivitäten ist anders, wenn sie von den Ereignissen konzentrierter Reflexion durchdrungen werden. Ebenso wie die Alternativen, auf die man verzichtet hat, werden sie im Rahmen der Hierarchie von Gründen und Zielen, die sich aus der Prüfung ergeben haben, anders interpretiert.“ (Nozick 1991, 13)

Wenn wir dazu aufgefordert sind, mit Schwierigkeiten in unserem Leben zurecht zu kommen, dann stellt sich rasch das Gefühl ein, dass wir uns auch wieder neu zu orientieren haben – an Neuem, an Vertrautem, aber auch an Unbekanntem, das uns noch bevor steht: „Es kommt vor, dass man durch einen anderen, unbekannten Raum zu schreiten glaubt, der dennoch heimatliche Erde wäre.“ (Jaccottet 2003,115) Diese Neuorientierung geht vor allem mit einem Perspektivenwechsel einher, der uns nicht nur einen anderen Blick auf die Welt, sondern auch auf uns erlaubt. „Generically, mind change entails the alteration of mental representations … The trick in “psychosurgery” (i.e. mind changing) is to accept the change that will happen anyway, acknowledge that certain other changes may be impossible, and concentrate one’s efforts on those changes of mind that are important, won’t occur naturally, but can be achieved with sufficient effort and motivation.” (Gardner 2006,209) Als ob sich Verluste einfach wegdenken ließen … Oder doch? „Gefordert ist daher eine Kompetenz zur Bewältigung schwieriger Lebensereignisse.“ (Corina Ahlers in Levold/Wirsching 2014, 331)

Lebenskompetenz – ein etwas sperriger Begriff, der immer wieder dann bemüht wird, wenn etwas gerade besonders schwer fällt, wenn gerade wieder die Emotionen stärker als unsere Fähigkeit geworden sind, eine gewisse Ruhe und Distanz in unser Denken zu bringen. Abschied-Nehmen: auch wenn der Verlust passiv erlitten wurde, das Abschiednehmen scheint etwas zu sein, das uns unserer Aktivität, unsere Handlungskraft wieder zurückgeben kann. Abschiede – ein bekanntes Bild in jedem Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, indem wir Menschen und Dinge, Gewohnheiten und Denkmuster mit einer gewissen Bedeutung versehen haben. Und dabei auch lernen mussten, diese Bedeutungen als fließend anzuerkennen. Fließend, weil manches eben verloren geht … „Das heißt, wir sind wieder glücklich an dem Punkt angelangt, an dem die Frage gestellt werden kann: Wo ist die Heimat dieser Szene, wie kommst du zu ihr hin, wie kommst du von ihr weg, d.h. über sie hinaus?“ (Mora 2014, 48) – Heimat: eine Metapher für all das, was wir liebgewonnen haben. Wer liebt, lebt auf den Verlust hin – oder nicht? Zeig mir deine Wunde, und ich lerne zu verstehen, wen oder was du in deinem Leben geliebt hast. Zeig mir deine Wunde – und lass uns darüber erzählen, wie wir mit Verlust und Trauer leben können. 

Zum Autor

David Althaus widmet sich seit vielen Jahren der psychologischen Beratung von Menschen, vor allem, wenn sie sich in schwierigen Lebensphasen befinden. Sein fachlicher Hintergrund ist umfangreich. David Althaus hat Psychologie studiert und sein Diplom und seine Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München abgelegt (www.fak11.lmu.de/dep_psychologie/index.html). Dabei ist ihm wichtig, sein Wissen und sein Engagement auch mit anderen zu teilen. Er ist unter anderem stellvertretender Beiratsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe, Supervisor am VFK Verhaltenstherapie (AIM München) und Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Deutschen Bündnisses gegen Depression e.V. Gemeinsam mit Michael Simon und Zoltan, beides Psychologen, betreibt David Althaus eine psychotherapeutische Praxisgemeinschaft, die sich vor allem der Verhaltenstherapie verschrieben hat - www.verhaltenstherapie-dachau.de. Die Therapieschwerpunkte umfassen: Depressionen, Angsterkrankungen (Panikattacken und Phobien), Zwangserkrankungen, Schmerzstörungen, somatoforme Störungen, akute Krisen, schwere Trauerreaktionen z.B. nach Tod/Suizid eines Angehörigen und posttraumatische Belastungsstörungen.

Zuletzt hat er zwei Bücher zu den Themen Depression und Zwangsstörungen publiziert. 

Verlust und Trauer erzählbar gemacht –Zum Inhalt des Buches

David Althaus weiß, wovon er spricht – „Seit vielen Jahren begleite ich Menschen nach schweren Verlusterlebnissen“ (Althaus 2015, 9). Diese Begleitung findet zum einen in psychotherapeutischer Einzeltherapie statt, aber auch in begleiteten Trauergruppen, die den Trauernden besondere Hilfestellung geben können, in dem sie in der Gruppe die Erfahrung von Aufmerksamkeit und Anerkennung und dem gemeinsamen Teilen von Geschichten machen können. Geschichten sind dabei als wichtige Ausdrucksmittel zu verstehen, um sich mit den eigenen Erinnerungen und Reflexionen auseinandersetzen zu können. In dem Buch kommen sechs Frauen zu Wort, die um geliebte Menschen trauern. Sie haben diese Menschen unter den verschiedensten Umständen verloren: Autounfälle, Suizide, plötzliche Todesfälle durch gesundheitliche Probleme. Was sie vereint sind schmerzlich erlebte Verluste. Die Frauen sind ihren Erzählweisen so verschieden, wie in ihrem Trauererleben und –verhalten. Darin kommt die kontextgebundene individuelle Trauererfahrung zum Ausdruck, auf die hinzuweisen David Althaus so viel Wert legt (z.B. Althaus 2015, 15) Dennoch lassen sich seiner Meinung nach bestimmte Trauerphasen unterscheiden (Althaus 2015, 19ff.) – die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens steht oft am Beginn des Verlustereignisses. Wird der Verlust realisiert kommt es zu heftigen Gefühlen – Schmerz, der von der Unumkehrbarkeit eines Verlusts geprägt ist (vgl. Althaus 2015, 53). Die Sehnsucht nach dem Verstorbenen stellt eine aktive Form der Verbindung zu ihm dar, eine Hinwendung zu neuen Lebensaufgaben und Herausforderungen stellt sich dennoch ein. 

In seinen eigenen Beiträgen greift David Althaus Themen und Aspekte der erzählten Geschichten auf und vertieft sie durch Bemerkungen und Beispiele. Darin lässt er sein Verständnis von Trauer und Trauerbegleitung erkennen und das, was ihm wichtig ist, betont zu werden. Er unterscheidet zwischen Trauer und Depression, erläutert den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Suiziden, widmet sich ausführlich der Frage nach dem Schulderleben von Angehörigen und beschreibt auch Traueraufgaben – Aufgaben, denen sich Trauernde zu stellen haben. Dabei findet er einen Ton, der weder belehrend noch besserwisserisch klingt. Er formuliert, was trauernden Menschen seiner Erfahrung nach guttut (Althaus 2015, 156/157) und schließt sein Buch auch mit einer Traueraufgabe für die Trauernden selbst: „Überprüfe dein Leben. Es liegt an dir zu entscheiden, was du aufbewahren willst. Gehe sorgsam damit um und werfe Ballast ab, den du nicht mehr brauchst. Finde heraus, was du mit deinem Leben anfangen wirst.“ (Althaus 2015, 223) 

Fazit

In einem der Bücher von Luise Reddemann findet sich ein Kapitel über Trauer mit der Überschrift betitelt: „Die eigene Geschichte annehmen und integrieren.“ (Reddemann 2012, 166) David Althaus ist mit seinem Buch eine schwierige Aufgabe sehr gut geglückt – zum einen hat er mit der von ihm geleiteten Trauergruppe Menschen dabei unterstützen können, ihre Geschichten zu erzählen und deren Verluste annehmen zu lernen. Zweitens ist dabei ein Buch entstanden, das sich mit Ratschlägen an Betroffene sehr zurück hält und in dem Menschen sehr authentisch zu Wort kommen. Die Geschichten werden in seinen eigenen Beiträgen nicht kommentiert, vielmehr werden Themen, die darin angesprochen werden, nochmals vertieft und reflektiert. Es ist ihm damit etwas geglückt, was sich bei Thomas Levold eigentlich viel zu lapidar als Selbstverständlichkeit formuliert findet: “Als Therapeuten ist uns selbstverständlich, dass Personen gerade in ihrer Individualität sozial anerkannt sein müssen, um überhaupt überleben zu können.” (Levold 2014, 207) David Althaus betont in seinen Beiträgen immer wieder, wie wichtig es ist, Trauer als etwas Individuelles zu verstehen und zu akzeptieren. Er rekurriert dabei nicht ausdrücklich auf wissenschaftliche Definitionen, wie diese hier: „Trauer ist eine Emotion als Reaktion auf ein Erleben aus der Kategorie der kritischen Lebensereignisse, das für den Betroffenen mit Stress verbunden ist, der in der Ausgestaltung, im Verlauf und in der Folge unterschiedliche Nachwirkungen haben kann. Trauer ist der emotionale Ausdruck von Niedergeschlagenheit bis Verzweiflung.“ (Irene Hochstrat in Hanswille 2015, 297) Was er macht ist, den vielfältigen Aspekten der Trauererfahrungen Raum zu geben. Es ist ein sehr respektvolles Buch und die Art, wie sich David Althaus dabei im Hintergrund hält, lässt auch aus der Distanz der Lektüre ahnen, wie sehr ihm Menschen und ihre Geschichten am Herzen liegen.

Die einzelnen Geschichten veranschaulichen, welchen Weg die sechs Frauen in ihrer Trauer gegangen sind und sie lassen auch Unterschiede erkennen – manches scheint besser zu funktionieren, manches weniger gut. Aber, um nochmals auf den Satz einer Erzählerin zurückzukommen: „Das Leben ist nun mal ein abschiedliches Leben.“ (Althaus 2015, 160)

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Bonder, R. N. (1999). Yiddishe Kop - Creative Problem Solving in Jewish Learning, Lore & Humor. Boston, MA (USA) & London (UK), Shambhala Publications

Gardner, H. (2006). Changing Minds - The Art and Science of Changing Our Own and Other People's Mind. Boston, MA (USA), Harvard Business School Press

Hanswille, R., Hrsg. (2015). Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht

Jaccottet, P. (2003 [1990]). Der Unwissende. München (GER), Carl Hanser Verlag

Levold, T. und M. Wirsching, Hrsg. (2014). Systemische Therapie und Beratung - das große Lehrbuch. Heidelberg (GER), Carl-Auer Verlag

Levold, T. (2014). Die Perspektive der "ganzen Person" - Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie. Systemische Streifzüge - Herausforderungen für Therapie und Beratung. J. Zwack und E. Nicolai. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht: 193-211  

Mora, T. (2014). Nicht sterben - Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München (GER), Luchterhand Literaturverlag

Nozick, R. (1991 [1989]). Vom richtigen, guten und glücklichen Leben. München (GER) & Wien (AUT), Carl Hanser Verlag

Reddemann, L. (2012 [2001]). Imagination als heilsame Kraft - Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart (GER), Klett-Cotta