Donnerstag, 9. Juli 2015

Rezension: David Althaus - Zeig mir deine Wunde



Menschen erzählen von Verlust und Trauer

David Althaus (2015) Zeig mir deine Wunde – Geschichten von Verlust und Trauer. München (GER), Verlag C.H. Beck

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.beck.de

Buchseite des Verlages:
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Trauer, Schmerz, Tod, Suizid, Psychotherapie, Trauerarbeit, Lebenskompetenz, Rezension 

Unser Leben ist ein abschiedliches Leben – Trauer und ihr Platz in unserem Leben

David Althaus - Zeig mir Deine Wunde - Titelbild (Rezension HG Kratochvila)Menschen sind in ihrem Leben unausweichlich mit Verlusten und Abschieden konfrontiert – was liebgewonnen wurde, geht verloren oder muss aufgegeben werden. Abschied nehmen, Verluste ertragen – das sind Herausforderungen, denen wir uns im Leben jederzeit zu stellen haben. Die Verlustobjekte sind dabei sehr unterschiedlich – Menschen, Tiere, Gewohnheiten, der Arbeitsplatz, oder liebgewordenen Routinen, um die herum wir unser Leben organisiert haben. In diesem Netz aus dem, was wir liebgewonnen haben, fühlen wir uns manchmal sogar beengt. „We are prisoners of our minds to such an extent that rarely are we dissatisfied with them … We will only overcome certain obstacles on the path to solutions if we invest in our ignorances rather than endeavoring to maximize our certainties.” (Bonder 1999, 19) Wir nehmen es für gegeben an, was wir liebgewonnen haben. Ein plötzlicher Verlust, eine unvorhergesehene Wendung in unserem Leben und diese Sicherheit geht schnell verloren. „Die Aktivitäten eines Lebens werden von Prüfungen durchzogen, nicht nur von ihnen beeinflusst, und der Charakter dieser Aktivitäten ist anders, wenn sie von den Ereignissen konzentrierter Reflexion durchdrungen werden. Ebenso wie die Alternativen, auf die man verzichtet hat, werden sie im Rahmen der Hierarchie von Gründen und Zielen, die sich aus der Prüfung ergeben haben, anders interpretiert.“ (Nozick 1991, 13)

Wenn wir dazu aufgefordert sind, mit Schwierigkeiten in unserem Leben zurecht zu kommen, dann stellt sich rasch das Gefühl ein, dass wir uns auch wieder neu zu orientieren haben – an Neuem, an Vertrautem, aber auch an Unbekanntem, das uns noch bevor steht: „Es kommt vor, dass man durch einen anderen, unbekannten Raum zu schreiten glaubt, der dennoch heimatliche Erde wäre.“ (Jaccottet 2003,115) Diese Neuorientierung geht vor allem mit einem Perspektivenwechsel einher, der uns nicht nur einen anderen Blick auf die Welt, sondern auch auf uns erlaubt. „Generically, mind change entails the alteration of mental representations … The trick in “psychosurgery” (i.e. mind changing) is to accept the change that will happen anyway, acknowledge that certain other changes may be impossible, and concentrate one’s efforts on those changes of mind that are important, won’t occur naturally, but can be achieved with sufficient effort and motivation.” (Gardner 2006,209) Als ob sich Verluste einfach wegdenken ließen … Oder doch? „Gefordert ist daher eine Kompetenz zur Bewältigung schwieriger Lebensereignisse.“ (Corina Ahlers in Levold/Wirsching 2014, 331)

Lebenskompetenz – ein etwas sperriger Begriff, der immer wieder dann bemüht wird, wenn etwas gerade besonders schwer fällt, wenn gerade wieder die Emotionen stärker als unsere Fähigkeit geworden sind, eine gewisse Ruhe und Distanz in unser Denken zu bringen. Abschied-Nehmen: auch wenn der Verlust passiv erlitten wurde, das Abschiednehmen scheint etwas zu sein, das uns unserer Aktivität, unsere Handlungskraft wieder zurückgeben kann. Abschiede – ein bekanntes Bild in jedem Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, indem wir Menschen und Dinge, Gewohnheiten und Denkmuster mit einer gewissen Bedeutung versehen haben. Und dabei auch lernen mussten, diese Bedeutungen als fließend anzuerkennen. Fließend, weil manches eben verloren geht … „Das heißt, wir sind wieder glücklich an dem Punkt angelangt, an dem die Frage gestellt werden kann: Wo ist die Heimat dieser Szene, wie kommst du zu ihr hin, wie kommst du von ihr weg, d.h. über sie hinaus?“ (Mora 2014, 48) – Heimat: eine Metapher für all das, was wir liebgewonnen haben. Wer liebt, lebt auf den Verlust hin – oder nicht? Zeig mir deine Wunde, und ich lerne zu verstehen, wen oder was du in deinem Leben geliebt hast. Zeig mir deine Wunde – und lass uns darüber erzählen, wie wir mit Verlust und Trauer leben können. 

Zum Autor

David Althaus widmet sich seit vielen Jahren der psychologischen Beratung von Menschen, vor allem, wenn sie sich in schwierigen Lebensphasen befinden. Sein fachlicher Hintergrund ist umfangreich. David Althaus hat Psychologie studiert und sein Diplom und seine Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München abgelegt (www.fak11.lmu.de/dep_psychologie/index.html). Dabei ist ihm wichtig, sein Wissen und sein Engagement auch mit anderen zu teilen. Er ist unter anderem stellvertretender Beiratsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe, Supervisor am VFK Verhaltenstherapie (AIM München) und Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Deutschen Bündnisses gegen Depression e.V. Gemeinsam mit Michael Simon und Zoltan, beides Psychologen, betreibt David Althaus eine psychotherapeutische Praxisgemeinschaft, die sich vor allem der Verhaltenstherapie verschrieben hat - www.verhaltenstherapie-dachau.de. Die Therapieschwerpunkte umfassen: Depressionen, Angsterkrankungen (Panikattacken und Phobien), Zwangserkrankungen, Schmerzstörungen, somatoforme Störungen, akute Krisen, schwere Trauerreaktionen z.B. nach Tod/Suizid eines Angehörigen und posttraumatische Belastungsstörungen.

Zuletzt hat er zwei Bücher zu den Themen Depression und Zwangsstörungen publiziert. 

Verlust und Trauer erzählbar gemacht –Zum Inhalt des Buches

David Althaus weiß, wovon er spricht – „Seit vielen Jahren begleite ich Menschen nach schweren Verlusterlebnissen“ (Althaus 2015, 9). Diese Begleitung findet zum einen in psychotherapeutischer Einzeltherapie statt, aber auch in begleiteten Trauergruppen, die den Trauernden besondere Hilfestellung geben können, in dem sie in der Gruppe die Erfahrung von Aufmerksamkeit und Anerkennung und dem gemeinsamen Teilen von Geschichten machen können. Geschichten sind dabei als wichtige Ausdrucksmittel zu verstehen, um sich mit den eigenen Erinnerungen und Reflexionen auseinandersetzen zu können. In dem Buch kommen sechs Frauen zu Wort, die um geliebte Menschen trauern. Sie haben diese Menschen unter den verschiedensten Umständen verloren: Autounfälle, Suizide, plötzliche Todesfälle durch gesundheitliche Probleme. Was sie vereint sind schmerzlich erlebte Verluste. Die Frauen sind ihren Erzählweisen so verschieden, wie in ihrem Trauererleben und –verhalten. Darin kommt die kontextgebundene individuelle Trauererfahrung zum Ausdruck, auf die hinzuweisen David Althaus so viel Wert legt (z.B. Althaus 2015, 15) Dennoch lassen sich seiner Meinung nach bestimmte Trauerphasen unterscheiden (Althaus 2015, 19ff.) – die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens steht oft am Beginn des Verlustereignisses. Wird der Verlust realisiert kommt es zu heftigen Gefühlen – Schmerz, der von der Unumkehrbarkeit eines Verlusts geprägt ist (vgl. Althaus 2015, 53). Die Sehnsucht nach dem Verstorbenen stellt eine aktive Form der Verbindung zu ihm dar, eine Hinwendung zu neuen Lebensaufgaben und Herausforderungen stellt sich dennoch ein. 

In seinen eigenen Beiträgen greift David Althaus Themen und Aspekte der erzählten Geschichten auf und vertieft sie durch Bemerkungen und Beispiele. Darin lässt er sein Verständnis von Trauer und Trauerbegleitung erkennen und das, was ihm wichtig ist, betont zu werden. Er unterscheidet zwischen Trauer und Depression, erläutert den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Suiziden, widmet sich ausführlich der Frage nach dem Schulderleben von Angehörigen und beschreibt auch Traueraufgaben – Aufgaben, denen sich Trauernde zu stellen haben. Dabei findet er einen Ton, der weder belehrend noch besserwisserisch klingt. Er formuliert, was trauernden Menschen seiner Erfahrung nach guttut (Althaus 2015, 156/157) und schließt sein Buch auch mit einer Traueraufgabe für die Trauernden selbst: „Überprüfe dein Leben. Es liegt an dir zu entscheiden, was du aufbewahren willst. Gehe sorgsam damit um und werfe Ballast ab, den du nicht mehr brauchst. Finde heraus, was du mit deinem Leben anfangen wirst.“ (Althaus 2015, 223) 

Fazit

In einem der Bücher von Luise Reddemann findet sich ein Kapitel über Trauer mit der Überschrift betitelt: „Die eigene Geschichte annehmen und integrieren.“ (Reddemann 2012, 166) David Althaus ist mit seinem Buch eine schwierige Aufgabe sehr gut geglückt – zum einen hat er mit der von ihm geleiteten Trauergruppe Menschen dabei unterstützen können, ihre Geschichten zu erzählen und deren Verluste annehmen zu lernen. Zweitens ist dabei ein Buch entstanden, das sich mit Ratschlägen an Betroffene sehr zurück hält und in dem Menschen sehr authentisch zu Wort kommen. Die Geschichten werden in seinen eigenen Beiträgen nicht kommentiert, vielmehr werden Themen, die darin angesprochen werden, nochmals vertieft und reflektiert. Es ist ihm damit etwas geglückt, was sich bei Thomas Levold eigentlich viel zu lapidar als Selbstverständlichkeit formuliert findet: “Als Therapeuten ist uns selbstverständlich, dass Personen gerade in ihrer Individualität sozial anerkannt sein müssen, um überhaupt überleben zu können.” (Levold 2014, 207) David Althaus betont in seinen Beiträgen immer wieder, wie wichtig es ist, Trauer als etwas Individuelles zu verstehen und zu akzeptieren. Er rekurriert dabei nicht ausdrücklich auf wissenschaftliche Definitionen, wie diese hier: „Trauer ist eine Emotion als Reaktion auf ein Erleben aus der Kategorie der kritischen Lebensereignisse, das für den Betroffenen mit Stress verbunden ist, der in der Ausgestaltung, im Verlauf und in der Folge unterschiedliche Nachwirkungen haben kann. Trauer ist der emotionale Ausdruck von Niedergeschlagenheit bis Verzweiflung.“ (Irene Hochstrat in Hanswille 2015, 297) Was er macht ist, den vielfältigen Aspekten der Trauererfahrungen Raum zu geben. Es ist ein sehr respektvolles Buch und die Art, wie sich David Althaus dabei im Hintergrund hält, lässt auch aus der Distanz der Lektüre ahnen, wie sehr ihm Menschen und ihre Geschichten am Herzen liegen.

Die einzelnen Geschichten veranschaulichen, welchen Weg die sechs Frauen in ihrer Trauer gegangen sind und sie lassen auch Unterschiede erkennen – manches scheint besser zu funktionieren, manches weniger gut. Aber, um nochmals auf den Satz einer Erzählerin zurückzukommen: „Das Leben ist nun mal ein abschiedliches Leben.“ (Althaus 2015, 160)

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Bonder, R. N. (1999). Yiddishe Kop - Creative Problem Solving in Jewish Learning, Lore & Humor. Boston, MA (USA) & London (UK), Shambhala Publications

Gardner, H. (2006). Changing Minds - The Art and Science of Changing Our Own and Other People's Mind. Boston, MA (USA), Harvard Business School Press

Hanswille, R., Hrsg. (2015). Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht

Jaccottet, P. (2003 [1990]). Der Unwissende. München (GER), Carl Hanser Verlag

Levold, T. und M. Wirsching, Hrsg. (2014). Systemische Therapie und Beratung - das große Lehrbuch. Heidelberg (GER), Carl-Auer Verlag

Levold, T. (2014). Die Perspektive der "ganzen Person" - Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie. Systemische Streifzüge - Herausforderungen für Therapie und Beratung. J. Zwack und E. Nicolai. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht: 193-211  

Mora, T. (2014). Nicht sterben - Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München (GER), Luchterhand Literaturverlag

Nozick, R. (1991 [1989]). Vom richtigen, guten und glücklichen Leben. München (GER) & Wien (AUT), Carl Hanser Verlag

Reddemann, L. (2012 [2001]). Imagination als heilsame Kraft - Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart (GER), Klett-Cotta

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