Menschen erzählen von Verlust und Trauer
David
Althaus (2015) Zeig mir deine Wunde – Geschichten von Verlust und Trauer. München
(GER), Verlag C.H. Beck
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.beck.de
Buchseite des Verlages:
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Trauer, Schmerz, Tod, Suizid, Psychotherapie,
Trauerarbeit, Lebenskompetenz, Rezension
Unser Leben ist ein abschiedliches Leben – Trauer und ihr Platz in unserem Leben
Wenn wir dazu aufgefordert sind, mit Schwierigkeiten
in unserem Leben zurecht zu kommen, dann stellt sich rasch das Gefühl ein, dass
wir uns auch wieder neu zu orientieren haben – an Neuem, an Vertrautem, aber
auch an Unbekanntem, das uns noch bevor steht: „Es kommt vor, dass man durch
einen anderen, unbekannten Raum zu schreiten glaubt, der dennoch heimatliche
Erde wäre.“ (Jaccottet 2003,115)
Diese Neuorientierung geht vor allem mit einem Perspektivenwechsel einher, der
uns nicht nur einen anderen Blick auf die Welt, sondern auch auf uns erlaubt. „Generically,
mind change entails the alteration of mental representations … The trick in
“psychosurgery” (i.e. mind changing) is to accept the change that will happen
anyway, acknowledge that certain other changes may be impossible, and
concentrate one’s efforts on those changes of mind that are important, won’t
occur naturally, but can be achieved with sufficient effort and motivation.” (Gardner 2006,209) Als ob sich Verluste
einfach wegdenken ließen … Oder doch? „Gefordert ist daher eine Kompetenz zur
Bewältigung schwieriger Lebensereignisse.“ (Corina Ahlers in Levold/Wirsching 2014, 331)
Lebenskompetenz – ein etwas sperriger Begriff, der
immer wieder dann bemüht wird, wenn etwas gerade besonders schwer fällt, wenn
gerade wieder die Emotionen stärker als unsere Fähigkeit geworden sind, eine
gewisse Ruhe und Distanz in unser Denken zu bringen. Abschied-Nehmen: auch wenn
der Verlust passiv erlitten wurde, das Abschiednehmen scheint etwas zu sein,
das uns unserer Aktivität, unsere Handlungskraft wieder zurückgeben kann.
Abschiede – ein bekanntes Bild in jedem Leben, in dem wir uns eingerichtet
haben, indem wir Menschen und Dinge, Gewohnheiten und Denkmuster mit einer
gewissen Bedeutung versehen haben. Und dabei auch lernen mussten, diese
Bedeutungen als fließend anzuerkennen. Fließend, weil manches eben verloren
geht … „Das heißt, wir sind wieder glücklich an dem Punkt angelangt, an dem die
Frage gestellt werden kann: Wo ist die Heimat dieser Szene, wie kommst du zu
ihr hin, wie kommst du von ihr weg, d.h. über sie hinaus?“ (Mora 2014, 48) – Heimat: eine Metapher
für all das, was wir liebgewonnen haben. Wer liebt, lebt auf den Verlust hin –
oder nicht? Zeig mir deine Wunde, und ich lerne zu verstehen, wen oder was du
in deinem Leben geliebt hast. Zeig mir deine Wunde – und lass uns darüber
erzählen, wie wir mit Verlust und Trauer leben können.
Zum Autor
David Althaus widmet sich seit vielen Jahren der
psychologischen Beratung von Menschen, vor allem, wenn sie sich in schwierigen
Lebensphasen befinden. Sein fachlicher Hintergrund ist umfangreich. David
Althaus hat Psychologie studiert und sein Diplom und seine Dissertation an der
Ludwig-Maximilians-Universität München abgelegt (www.fak11.lmu.de/dep_psychologie/index.html). Dabei ist ihm wichtig, sein
Wissen und sein Engagement auch mit anderen zu teilen. Er ist unter anderem
stellvertretender Beiratsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe,
Supervisor am VFK Verhaltenstherapie (AIM München) und Mitbegründer und
Vorstandsmitglied des Deutschen Bündnisses gegen Depression e.V. Gemeinsam mit Michael
Simon und Zoltan, beides Psychologen, betreibt David Althaus eine
psychotherapeutische Praxisgemeinschaft, die sich vor allem der
Verhaltenstherapie verschrieben hat - www.verhaltenstherapie-dachau.de. Die
Therapieschwerpunkte umfassen: Depressionen, Angsterkrankungen (Panikattacken
und Phobien), Zwangserkrankungen, Schmerzstörungen, somatoforme Störungen,
akute Krisen, schwere Trauerreaktionen z.B. nach Tod/Suizid eines Angehörigen
und posttraumatische Belastungsstörungen.
Zuletzt hat er zwei Bücher zu den Themen Depression
und Zwangsstörungen publiziert.
Verlust und Trauer erzählbar gemacht –Zum Inhalt des Buches
David
Althaus weiß, wovon er spricht – „Seit vielen Jahren begleite ich Menschen nach
schweren Verlusterlebnissen“ (Althaus
2015, 9). Diese Begleitung findet zum einen in psychotherapeutischer
Einzeltherapie statt, aber auch in begleiteten Trauergruppen, die den
Trauernden besondere Hilfestellung geben können, in dem sie in der Gruppe die
Erfahrung von Aufmerksamkeit und Anerkennung und dem gemeinsamen Teilen von
Geschichten machen können. Geschichten
sind dabei als wichtige Ausdrucksmittel zu verstehen, um sich mit den eigenen
Erinnerungen und Reflexionen auseinandersetzen zu können. In
dem Buch kommen sechs Frauen zu Wort, die um geliebte Menschen trauern. Sie
haben diese Menschen unter den verschiedensten Umständen verloren: Autounfälle,
Suizide, plötzliche Todesfälle durch gesundheitliche Probleme. Was sie vereint
sind schmerzlich erlebte Verluste. Die Frauen sind ihren Erzählweisen so verschieden, wie in
ihrem Trauererleben und –verhalten. Darin kommt die kontextgebundene
individuelle Trauererfahrung zum Ausdruck, auf die hinzuweisen David Althaus so
viel Wert legt (z.B. Althaus 2015,
15) Dennoch lassen sich seiner Meinung nach bestimmte Trauerphasen
unterscheiden (Althaus 2015, 19ff.) –
die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens steht oft am Beginn des
Verlustereignisses. Wird der Verlust realisiert kommt es zu heftigen Gefühlen –
Schmerz, der von der Unumkehrbarkeit eines Verlusts geprägt ist (vgl. Althaus 2015, 53). Die Sehnsucht nach
dem Verstorbenen stellt eine aktive Form der Verbindung zu ihm dar, eine
Hinwendung zu neuen Lebensaufgaben und Herausforderungen stellt sich dennoch
ein.
In seinen eigenen Beiträgen greift David Althaus Themen
und Aspekte der erzählten Geschichten auf und vertieft sie durch Bemerkungen
und Beispiele. Darin lässt er sein Verständnis von Trauer und Trauerbegleitung
erkennen und das, was ihm wichtig ist, betont zu werden. Er unterscheidet zwischen
Trauer und Depression, erläutert den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen
und Suiziden, widmet sich ausführlich der Frage nach dem Schulderleben von
Angehörigen und beschreibt auch Traueraufgaben – Aufgaben, denen sich Trauernde
zu stellen haben. Dabei findet er einen Ton, der weder belehrend noch
besserwisserisch klingt. Er formuliert, was trauernden Menschen seiner
Erfahrung nach guttut (Althaus 2015,
156/157) und schließt sein Buch auch mit einer Traueraufgabe für die Trauernden
selbst: „Überprüfe dein Leben. Es liegt an dir zu entscheiden, was du
aufbewahren willst. Gehe sorgsam damit um und werfe Ballast ab, den du nicht
mehr brauchst. Finde heraus, was du mit deinem Leben anfangen wirst.“ (Althaus 2015, 223)
Fazit
In einem der Bücher von Luise Reddemann findet sich
ein Kapitel über Trauer mit der Überschrift betitelt: „Die eigene Geschichte
annehmen und integrieren.“ (Reddemann
2012, 166) David Althaus ist mit seinem Buch eine schwierige Aufgabe sehr gut
geglückt – zum einen hat er mit der von ihm geleiteten Trauergruppe Menschen
dabei unterstützen können, ihre Geschichten zu erzählen und deren Verluste
annehmen zu lernen. Zweitens ist dabei ein Buch entstanden, das sich mit
Ratschlägen an Betroffene sehr zurück hält und in dem Menschen sehr authentisch
zu Wort kommen. Die Geschichten werden in seinen eigenen Beiträgen nicht
kommentiert, vielmehr werden Themen, die darin angesprochen werden, nochmals
vertieft und reflektiert. Es ist ihm damit etwas geglückt, was sich bei Thomas
Levold eigentlich viel zu lapidar als Selbstverständlichkeit formuliert findet:
“Als Therapeuten ist uns selbstverständlich, dass Personen gerade in ihrer
Individualität sozial anerkannt sein müssen, um überhaupt überleben zu können.”
(Levold 2014, 207) David Althaus
betont in seinen Beiträgen immer wieder, wie wichtig es ist, Trauer als etwas
Individuelles zu verstehen und zu akzeptieren. Er rekurriert dabei nicht
ausdrücklich auf wissenschaftliche Definitionen, wie diese hier: „Trauer ist
eine Emotion als Reaktion auf ein Erleben aus der Kategorie der kritischen
Lebensereignisse, das für den Betroffenen mit Stress verbunden ist, der in der
Ausgestaltung, im Verlauf und in der Folge unterschiedliche Nachwirkungen haben
kann. Trauer ist der emotionale Ausdruck von Niedergeschlagenheit bis
Verzweiflung.“ (Irene Hochstrat in Hanswille
2015, 297) Was er macht ist, den vielfältigen Aspekten der Trauererfahrungen
Raum zu geben. Es ist ein sehr respektvolles Buch und die Art, wie sich David
Althaus dabei im Hintergrund hält, lässt auch aus der Distanz der Lektüre
ahnen, wie sehr ihm Menschen und ihre Geschichten am Herzen liegen.
Die einzelnen Geschichten veranschaulichen, welchen
Weg die sechs Frauen in ihrer Trauer gegangen sind und sie lassen auch
Unterschiede erkennen – manches scheint besser zu funktionieren, manches
weniger gut. Aber, um nochmals auf den Satz einer Erzählerin zurückzukommen:
„Das Leben ist nun mal ein abschiedliches Leben.“ (Althaus 2015, 160)
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Bonder, R. N. (1999). Yiddishe Kop - Creative Problem
Solving in Jewish Learning, Lore & Humor. Boston, MA (USA) & London
(UK), Shambhala Publications
Gardner, H. (2006). Changing Minds - The Art and
Science of Changing Our Own and Other People's Mind. Boston, MA (USA), Harvard
Business School Press
Hanswille, R., Hrsg. (2015). Handbuch systemische
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Göttingen (GER), Vandenhoeck &
Ruprecht
Jaccottet, P. (2003 [1990]). Der Unwissende. München
(GER), Carl Hanser Verlag
Levold, T. und M. Wirsching, Hrsg. (2014). Systemische
Therapie und Beratung - das große Lehrbuch. Heidelberg (GER), Carl-Auer Verlag
Levold, T. (2014). Die Perspektive der "ganzen
Person" - Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Psychotherapie.
Systemische Streifzüge - Herausforderungen für Therapie und Beratung. J. Zwack und
E. Nicolai. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht: 193-211
Mora, T. (2014). Nicht sterben - Frankfurter
Poetik-Vorlesungen. München (GER), Luchterhand Literaturverlag
Nozick, R. (1991 [1989]). Vom richtigen, guten und
glücklichen Leben. München (GER) & Wien (AUT), Carl Hanser Verlag
Reddemann, L. (2012 [2001]). Imagination als heilsame
Kraft - Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren.
Stuttgart (GER), Klett-Cotta
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