Freudmann,
G. (Hrsg) (2015). Wilhelm und Johanna Schischa - Was mit uns sein wird, wissen
wir nicht - Briefe aus dem Ghetto. Wien (AUT), Styria premium
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt: http://styriapremium.styriabooks.at
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Holocaust, Ghetto, 2. Weltkrieg,
Nationalsozialismus, Österreich, Polen, Briefwechsel, Lebenskompetenz
Wissen und Schmerz – das beständige Arbeiten mit der Erinnerung
„Wer sein Wissen vermehrt, vermehrt seinen Schmerz.“
(Prediger Salomo)
Die Soziologie beschäftigt sich seit längerem mit der
Frage nach dem Bedingungen und Voraussetzungen kollektiven Gedächtnisses – ein
wichtiger Protagonist in der Darstellung des kollektiven Gedächtnisses ist Maurice
Halbwachs. Er formulierte in einem Satz, was es braucht, um bestimmte
Gedächtnisinhalte aus dem Kollektiv zu löschen: „Als man die Herren und Nonnen
von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, solange man nicht die
Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen
dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten.“ (zitiert nach Steets 2015, 26) – jemanden aus dem
kollektiven Gedächtnis auszulöschen braucht demnach die Zerstörung materieller
Objekte und das Vergehen menschlicher Gedächtnisträger.
Sprache ist ein möglicher Gedächtnisspeicher, der
erinnerungswürdige Inhalte konserviert – über die Zeit und die Generationen
hinweg. So haben es auch die beiden Soziologen Peter L. Berger und Thomas
Luckmann in ihrem Buch zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit bemerkt:
„Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur
rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln.“
(zitiert nach Steets 2015, 175)
Sprache materialisiert sich beispielsweise in Briefen
– Beispielen aus dem Alltag, wie grausam er sich auch darstellen mag. Dabei ist
es nicht nur eine Form des zwischenmenschlichen Austauschs, sondern auch eine
Form der individuellen Sinngebung: „I believe all of us try to make sense of
our lives by telling our stories.“ (Grosz
2014, 9)
Diese Sinngebung braucht es wohl, um Resilienz zu
zeigen und damit auch trotzdem Ja zum Leben sagen zu können (vgl. Frankl 1997).
Es stellt sich auch die Frage, aus welchem Blickwinkel
heraus, sich die Beschäftigung mit Briefen aus einem jüdischen Ghetto lohnt: „Was
mir überhaupt in den Blick gerät und mich irritiert, also thematisch relevant für
mich wird, hängt mit meinem biographisch bedingten Wissensvorrat ebenso
zusammen wie mit den mir zur Verfügung stehenden subjektiven und objektiven
Deutungsschemata. Dieses Zusammenspiel ist nicht nur Voraussetzung für mein
Handeln in der Wirklichkeit der Alltagswelt, sondern auch für mein Lernen, also
für die Art und Weise, wie ich meinen subjektiven Vorrat an Wissen durch
Erfahrungen mit der Welt erweitere und modifiziere.“ (Steets 2015, 95) – Für den Herausgeber Gustav Freudmann ist ein
wichtiger Aspekt die Arbeit an unserer eigenen Vorstellung über Schrecken und Schmerz
dieser Zeit.: „Unser Wissen über den Holocaust ist inzwischen ja – möglicherweise
– groß, unsere Vorstellung davon jedoch – höchstwahrscheinlich – gering.“ (Freudmann 2015, 9) – Wohin es führen
kann, wenn viele Menschen sich hinter Nicht-Wissen, oder Nicht-Wissen-Wollen
verbergen, ist historisch ja belegt … zum Teil auch durch Dokumente wie Briefe …
“Sie wissen nichts, also lassen sie sich führen. Sie
sind herrlich führbar.“ (Kundera
2015, 128)
Zum Autor
Gustav
Freudmann ist neben seiner Tätigkeit als IT-Professional auch als Publizist und
Übersetzer tätig. Als Neffe von Wilhelm und Johanna Schischa hat er nun Briefe
vorgelegt, die die diese aus der polnischen Stadt Opole Lubelskie zwischen 1941
und 1942, dem Jahr ihrer Ermordung, an Verwandte gesendet hatten.
Aufbau des Buches
Das Buch gliedert sich grob in sieben Teile. Im Vorwort ermöglicht
Gustav Freudmann dem Leser einen kurzen Einblick in den Familienstammbaum der
Familie Schischa und den Entstehungszusammenhang der Briefe und den
Beschränkungen, des in diesen Briefen geschilderten Lebens im jüdischen Ghetto
– „“Wer von diesen Texten eine detaillierte Beschreibung der Zustände im Ghetto
von Opole Lubelskie erhofft, wird möglicherweise enttäuscht sein. Eine solche
hätte ja die deutsche Zensur gar nicht zugelassen. Hinzu kommt, dass die
Schischas ganz offensichtlich selbst darum bemüht waren, ihren Angehörigen die
ganze Wahrheit über das Leben im deutsch besetzten Polen zu ersparen.“ (Freudmann 2015, 8) Danach folgen die erhaltenen Briefe und Karten, die
zwischen dem 23.02.1941 und dem 29.01.1942 aus dem Ghetto heraus versendet
wurden. Es folgt eine Auflistung der rund 60 in den Briefen erwähnten Personen
– Name, Geburtsdatum, Sterbedatum. Gustav Freudmann hat dem Buch auch eine
Namensliste beigefügt, auf der die 2003 Personen aufgeführt werden, die sich
auf den beiden Transportlisten für die Deportationszüge von Wien nach Opole
Lubelskie befunden haben. Diese Deportationen fanden am 15. und 26. Februar
1941 statt – 28 Überlebende konnten ermittelt werden. Der Großteil der Deportierten
war zu diesem Zeitpunkt über 40 Jahre alt. In den Nachbemerkungen werden
kursorisch Hintergründe zu den Deportationen und zum Leben im jüdischen Ghetto
erläutert. Gustav Freudmann hat auch einen Bildteil in das Buch integriert, das
zum Teil auch Fotos des Ehepaares Schischa zeigt. Eine Literatur- und Linkliste
beschließt das Buch.
Die vorliegenden Briefe dokumentieren eindrucksvoll, mit
welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen das Ehepaar Schischa zu kämpfen
hatte – stellenweise wird auch klar, welche Bedeutung es hat, sich und seinem
Leben eine Perspektive zu geben - „Ohne Perspektive: der Tod. Die Auslöschung.
Das Raum-Aus. Das Weiße ohne ein Restrauschen.“ (Handke 2015, 44) Für das Ehepaar Schischa war der familiäre Kontakt
ein ganz wichtiger Aspekt im Alltagsleben – immer wieder die Nachfrage nach dem
Wohlbefinden anderer und das gegenseitige Versichern, dass man aneinander
denkt.
Das Leben im Ghetto fördert aber auch Neid und Missgunst:
„Anbei lege ich euch wieder in Bild … von unseren sauberen Glaubensgenossen bei
– das alles sind Momentaufnahmen, von den Nichtstuern, die den ganzen lieben
Tag dem Herrgott die Zeit abstehlen – und nicht einmal einen Nagel in ihre
verfaulten zerbrochenen Hütten hineinschlagen- Diesen Menschen, oder besser
gesagt diesen Unmenschen, die auch Wiener nicht mögen, obwohl sie alle von uns
leben, verdanken wir unser Elend.“ (Freudmann
2015, 97-98) – „Wenn es ums nackte Überleben geht, ist der Reflex der Reflexion
überlegen.“ (Janker 2001, 11)
Immer wieder zeigt sich in den Briefen, wie ambivalent
das Leben für das Ehepaar gewesen sin muss. Immer wieder kommen Zweifel und
Schwächephasen auf - „Das Leben ist dieses Leben wirklich nicht wert.“ (Freudmann 2015, 92), die sich dann aber
auch wieder mit Phasen der Zuversicht und der Bestärkung abwechseln: „Es ist
leider unser Schicksal und wir müssen es mit Geduld hinnehmen.“ (Freudmann 2015, 111) Vielleicht muss man
tatsächlich die Facettenhaftigkeit des Lebens akzeptieren, um zur inneren Ruhe
finden zu können: „Wir leben nicht in einer Welt, die so beschaffen ist, dass
es möglich wäre, in ihr nur den Schatten zu bewundern oder nur das Feuer.“ (Jaccottet 2015, 55) – ein weiterer
Hinweis auf die Kraft, die in der Verbindung von Wissen und Schmerz zu finden
ist.
Fazit
„Denn
wenn wir am Tod anderer Menschen, am Tod Angehöriger teilnehmen, sterben wir
selbst ein bisschen, werden selbst ein bisschen sterblicher.“ (Stasiuk 2013, 42) Die vorliegenden
Briefe sind ein besonderer Anlass, sich mit der eigenen Endlichkeit zu
befassen, sie sind aber auch ein historischer Anlass, sich über die aktuellen gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen klar zu werden. Gesellschaftliche Ausgrenzung, Herabsetzung, Diffamierung
zielen darauf ab, Gruppen von Menschen zum Schweigen zu bringen – oder wie ich
es für unsere Mediengesellschaft formulieren möchte – sie ins mediale Abseits zu
stellen.
Gustav
Freudmann holt mit den Briefen des Ehepaars Schischa historische
Gesprächspartner in die Gegenwart zurück
- Gesprächspartner, die ihren Teil bereits gesagt und formuliert haben,
die uns selbst nur indirekt fragen oder herausfordern können. Lässt man sich
aber auf sie als Gesprächspartner ein, helfen sie uns durch ihre Sätze und
Gedanken, für uns Klärung und Antwortmöglichkeiten zu finden. „Erinnerung
verbindet uns, Erinnerung trennt uns.“ (Klüger
2009, 220)
Dafür
reicht es aber nicht aus, bloß betroffen zu sein, wie es die knappen Kommentare
in einem Kurier-Blog (einem österreichischen Tagesmedium) nahelegen: http://kurier.at/meinung/blogs/lebensnah/gustav-freudmann-briefe-aus-dem-ghetto-1/127.661.169
und http://kurier.at/meinung/blogs/lebensnah/gustav-freudmann-briefe-aus-dem-ghetto-2/127.663.343
„Die
meisten Leute ahnen nicht, wie viel besser es ihnen gehen würde, wenn sie hin
und wieder einmal sehr gründlich nachdenken würden.“ (Bennent-Vahle 2011, 13)
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Bennent-Vahle, H. (2011). Glück kommt von Denken - Die
Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag
Herder
Frankl, V. E. (1997 [1977]). ... trotzdem Ja zum Leben
sagen - Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München (GER),
Deutscher Taschenbuch Verlag
Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We
Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books
Handke, P. (2015). Die Unschuldigen, ich und die
Unbekannte am Rand der Landstraße - Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten. Berlin
(GER), Suhrkamp Verlag
Jaccottet, P. (2015 [2013]). Sonnenflecken,
Schattenflecken. München (GER), Carl Hanser Verlag
Janker, J. W. (2001 [1971]). Der Umschuler.
Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Klüger, R. (2009 [1992]). weiter leben - Eine Jugend.
München (GER), Deutscher Taschenbuch Verlag
Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life
Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University
Press
Kundera, M. (2015 [2013]). Das Fest der Bedeutungslosigkeit. München
(GER), Carl Hanser Verlag
Stasiuk, A. (2013 [1998]). Wie ich Schriftsteller wurde - Versuch einer
intellektuellen Autobiographie. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
Steets, S. (2015). Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt - Eine Architektursoziologie. Berlin (GER),
Suhrkamp Verlag