Sonntag, 31. Mai 2015

Wissen und Schmerz - Briefe aus dem Ghetto



Freudmann, G. (Hrsg) (2015). Wilhelm und Johanna Schischa - Was mit uns sein wird, wissen wir nicht - Briefe aus dem Ghetto. Wien (AUT), Styria premium

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt: http://styriapremium.styriabooks.at

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Holocaust, Ghetto, 2. Weltkrieg, Nationalsozialismus, Österreich, Polen, Briefwechsel, Lebenskompetenz 

Wissen und Schmerz – das beständige Arbeiten mit der Erinnerung 

„Wer sein Wissen vermehrt, vermehrt seinen Schmerz.“ (Prediger Salomo)

Die Soziologie beschäftigt sich seit längerem mit der Frage nach dem Bedingungen und Voraussetzungen kollektiven Gedächtnisses – ein wichtiger Protagonist in der Darstellung des kollektiven Gedächtnisses ist Maurice Halbwachs. Er formulierte in einem Satz, was es braucht, um bestimmte Gedächtnisinhalte aus dem Kollektiv zu löschen: „Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten.“ (zitiert nach Steets 2015, 26) – jemanden aus dem kollektiven Gedächtnis auszulöschen braucht demnach die Zerstörung materieller Objekte und das Vergehen menschlicher Gedächtnisträger.

Sprache ist ein möglicher Gedächtnisspeicher, der erinnerungswürdige Inhalte konserviert – über die Zeit und die Generationen hinweg. So haben es auch die beiden Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem Buch zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit bemerkt: „Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln.“ (zitiert nach Steets 2015, 175)

Sprache materialisiert sich beispielsweise in Briefen – Beispielen aus dem Alltag, wie grausam er sich auch darstellen mag. Dabei ist es nicht nur eine Form des zwischenmenschlichen Austauschs, sondern auch eine Form der individuellen Sinngebung: „I believe all of us try to make sense of our lives by telling our stories.“ (Grosz 2014, 9)
Diese Sinngebung braucht es wohl, um Resilienz zu zeigen und damit auch trotzdem Ja zum Leben sagen zu können (vgl. Frankl 1997).

Es stellt sich auch die Frage, aus welchem Blickwinkel heraus, sich die Beschäftigung mit Briefen aus einem jüdischen Ghetto lohnt: „Was mir überhaupt in den Blick gerät und mich irritiert, also thematisch relevant für mich wird, hängt mit meinem biographisch bedingten Wissensvorrat ebenso zusammen wie mit den mir zur Verfügung stehenden subjektiven und objektiven Deutungsschemata. Dieses Zusammenspiel ist nicht nur Voraussetzung für mein Handeln in der Wirklichkeit der Alltagswelt, sondern auch für mein Lernen, also für die Art und Weise, wie ich meinen subjektiven Vorrat an Wissen durch Erfahrungen mit der Welt erweitere und modifiziere.“ (Steets 2015, 95) – Für den Herausgeber Gustav Freudmann ist ein wichtiger Aspekt die Arbeit an unserer eigenen Vorstellung über Schrecken und Schmerz dieser Zeit.: „Unser Wissen über den Holocaust ist inzwischen ja – möglicherweise – groß, unsere Vorstellung davon jedoch – höchstwahrscheinlich – gering.“ (Freudmann 2015, 9) – Wohin es führen kann, wenn viele Menschen sich hinter Nicht-Wissen, oder Nicht-Wissen-Wollen verbergen, ist historisch ja belegt … zum Teil auch durch Dokumente wie Briefe …
“Sie wissen nichts, also lassen sie sich führen. Sie sind herrlich führbar.“ (Kundera 2015, 128)

Zum Autor

Gustav Freudmann ist neben seiner Tätigkeit als IT-Professional auch als Publizist und Übersetzer tätig. Als Neffe von Wilhelm und Johanna Schischa hat er nun Briefe vorgelegt, die die diese aus der polnischen Stadt Opole Lubelskie zwischen 1941 und 1942, dem Jahr ihrer Ermordung, an Verwandte gesendet hatten. 

Aufbau des Buches

Das Buch gliedert sich grob in sieben Teile. Im Vorwort ermöglicht Gustav Freudmann dem Leser einen kurzen Einblick in den Familienstammbaum der Familie Schischa und den Entstehungszusammenhang der Briefe und den Beschränkungen, des in diesen Briefen geschilderten Lebens im jüdischen Ghetto – „“Wer von diesen Texten eine detaillierte Beschreibung der Zustände im Ghetto von Opole Lubelskie erhofft, wird möglicherweise enttäuscht sein. Eine solche hätte ja die deutsche Zensur gar nicht zugelassen. Hinzu kommt, dass die Schischas ganz offensichtlich selbst darum bemüht waren, ihren Angehörigen die ganze Wahrheit über das Leben im deutsch besetzten Polen zu ersparen.“ (Freudmann 2015, 8) Danach folgen die erhaltenen Briefe und Karten, die zwischen dem 23.02.1941 und dem 29.01.1942 aus dem Ghetto heraus versendet wurden. Es folgt eine Auflistung der rund 60 in den Briefen erwähnten Personen – Name, Geburtsdatum, Sterbedatum. Gustav Freudmann hat dem Buch auch eine Namensliste beigefügt, auf der die 2003 Personen aufgeführt werden, die sich auf den beiden Transportlisten für die Deportationszüge von Wien nach Opole Lubelskie befunden haben. Diese Deportationen fanden am 15. und 26. Februar 1941 statt – 28 Überlebende konnten ermittelt werden. Der Großteil der Deportierten war zu diesem Zeitpunkt über 40 Jahre alt. In den Nachbemerkungen werden kursorisch Hintergründe zu den Deportationen und zum Leben im jüdischen Ghetto erläutert. Gustav Freudmann hat auch einen Bildteil in das Buch integriert, das zum Teil auch Fotos des Ehepaares Schischa zeigt. Eine Literatur- und Linkliste beschließt das Buch.

Die vorliegenden Briefe dokumentieren eindrucksvoll, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen das Ehepaar Schischa zu kämpfen hatte – stellenweise wird auch klar, welche Bedeutung es hat, sich und seinem Leben eine Perspektive zu geben - „Ohne Perspektive: der Tod. Die Auslöschung. Das Raum-Aus. Das Weiße ohne ein Restrauschen.“ (Handke 2015, 44) Für das Ehepaar Schischa war der familiäre Kontakt ein ganz wichtiger Aspekt im Alltagsleben – immer wieder die Nachfrage nach dem Wohlbefinden anderer und das gegenseitige Versichern, dass man aneinander denkt.

Das Leben im Ghetto fördert aber auch Neid und Missgunst: „Anbei lege ich euch wieder in Bild … von unseren sauberen Glaubensgenossen bei – das alles sind Momentaufnahmen, von den Nichtstuern, die den ganzen lieben Tag dem Herrgott die Zeit abstehlen – und nicht einmal einen Nagel in ihre verfaulten zerbrochenen Hütten hineinschlagen- Diesen Menschen, oder besser gesagt diesen Unmenschen, die auch Wiener nicht mögen, obwohl sie alle von uns leben, verdanken wir unser Elend.“ (Freudmann 2015, 97-98) – „Wenn es ums nackte Überleben geht, ist der Reflex der Reflexion überlegen.“ (Janker 2001, 11)

Immer wieder zeigt sich in den Briefen, wie ambivalent das Leben für das Ehepaar gewesen sin muss. Immer wieder kommen Zweifel und Schwächephasen auf - „Das Leben ist dieses Leben wirklich nicht wert.“ (Freudmann 2015, 92), die sich dann aber auch wieder mit Phasen der Zuversicht und der Bestärkung abwechseln: „Es ist leider unser Schicksal und wir müssen es mit Geduld hinnehmen.“ (Freudmann 2015, 111) Vielleicht muss man tatsächlich die Facettenhaftigkeit des Lebens akzeptieren, um zur inneren Ruhe finden zu können: „Wir leben nicht in einer Welt, die so beschaffen ist, dass es möglich wäre, in ihr nur den Schatten zu bewundern oder nur das Feuer.“ (Jaccottet 2015, 55) – ein weiterer Hinweis auf die Kraft, die in der Verbindung von Wissen und Schmerz zu finden ist.

Fazit

„Denn wenn wir am Tod anderer Menschen, am Tod Angehöriger teilnehmen, sterben wir selbst ein bisschen, werden selbst ein bisschen sterblicher.“ (Stasiuk 2013, 42) Die vorliegenden Briefe sind ein besonderer Anlass, sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen, sie sind aber auch ein historischer Anlass, sich über die aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen klar zu werden. Gesellschaftliche Ausgrenzung, Herabsetzung, Diffamierung zielen darauf ab, Gruppen von Menschen zum Schweigen zu bringen – oder wie ich es für unsere Mediengesellschaft formulieren möchte – sie ins mediale Abseits zu stellen.
Gustav Freudmann holt mit den Briefen des Ehepaars Schischa historische Gesprächspartner in die Gegenwart zurück  - Gesprächspartner, die ihren Teil bereits gesagt und formuliert haben, die uns selbst nur indirekt fragen oder herausfordern können. Lässt man sich aber auf sie als Gesprächspartner ein, helfen sie uns durch ihre Sätze und Gedanken, für uns Klärung und Antwortmöglichkeiten zu finden. „Erinnerung verbindet uns, Erinnerung trennt uns.“ (Klüger 2009, 220)

Dafür reicht es aber nicht aus, bloß betroffen zu sein, wie es die knappen Kommentare in einem Kurier-Blog (einem österreichischen Tagesmedium) nahelegen: http://kurier.at/meinung/blogs/lebensnah/gustav-freudmann-briefe-aus-dem-ghetto-1/127.661.169 und http://kurier.at/meinung/blogs/lebensnah/gustav-freudmann-briefe-aus-dem-ghetto-2/127.663.343

„Die meisten Leute ahnen nicht, wie viel besser es ihnen gehen würde, wenn sie hin und wieder einmal sehr gründlich nachdenken würden.“ (Bennent-Vahle 2011, 13)

Harald G. Kratochvila, Wien


Verwendete Literatur:

Bennent-Vahle, H. (2011). Glück kommt von Denken - Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder

Frankl, V. E. (1997 [1977]). ... trotzdem Ja zum Leben sagen - Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München (GER), Deutscher Taschenbuch Verlag

Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books

Handke, P. (2015). Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße - Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten. Berlin (GER), Suhrkamp Verlag

Jaccottet, P. (2015 [2013]). Sonnenflecken, Schattenflecken. München (GER), Carl Hanser Verlag

Janker, J. W. (2001 [1971]). Der Umschuler. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Klüger, R. (2009 [1992]). weiter leben - Eine Jugend. München (GER), Deutscher Taschenbuch Verlag

Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University Press

Kundera, M. (2015 [2013]). Das Fest der Bedeutungslosigkeit. München (GER), Carl Hanser Verlag

Stasiuk, A. (2013 [1998]). Wie ich Schriftsteller wurde - Versuch einer intellektuellen Autobiographie. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Steets, S. (2015). Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt  - Eine Architektursoziologie. Berlin (GER), Suhrkamp Verlag

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