Hergenröther,
D. (2015). Fallberichte aus der Psychotherapie - 47 Beispiele für eine
erfolgreiche Falldokumentation im Antragsverfahren. Stuttgart (GER), Georg
Thieme Verlag
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.thieme.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Psychotherapie, Leid, Lebensform,
Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Fallgeschichten, Lebenskompetenz, Rezension
Psychotherapeutische Erfolgsgeschichten
„I believe all
of us try to make sense of our lives by telling our stories.“ (Grosz 2014, 9)
Psychotherapie stellt für immer mehr Menschen einen
gangbaren Weg zu einem integren Leben, zu einem bewusst gestalteten Leben dar. Psychotherapie
als ganz besondere Wachstumsmöglichkeit – als ein Raum, in dem es möglich wird,
unter Anleitung neue Perspektiven zu erarbeiten und mit Fehlurteilen und
Fehlverhalten besser umgehen zu lernen. Egon Fabian führt konsequenterweise
auch diese beiden Aspekte in seiner Definition der Ziele von Psychotherapie an:
Leidensminderung und persönliches Wachstum - “Wenn das Ziel einer erfolgreichen
Psychotherapie nicht nur in der Linderung von Leid und Konflikten besteht,
sondern auch das innere Wachstum des Patienten fördern soll, dann muss der
Patient allmählich lernen, sich über seine eigenen Probleme zu erheben bzw.
diese aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“ (Fabian 2015, 118)
Der Mensch lernt aber nicht nur aus direkter,
unmittelbarer Anschauung – auch das Lesen darüber, wie es anderen Menschen
gelingt, ihre Probleme zu bewältigen, beziehungsweise, wie es Menschen gelingt,
andere dabei anzuleiten, Leidensminderung und persönliches Wachstum zu
erreichen, ist von Vorteil. Psychotherapeutische Erfolgsgeschichten –
Fallbesprechungen, systematisch aufgearbeitet – bieten eine wertvolle Quelle an
den Veränderungsprozessen anderer Menschen teilzuhaben. Dabei gilt aber: „Heute
ist weniger interessant, was ein Patient in einem Vorher-Nachher-Vergleich an
Veränderungen zu erkennen gibt als vielmehr der Prozess der
psychotherapeutischen Veränderung selbst. Wie viel trägt die gewählte
psychotherapeutische Methode zur Veränderung bei, inwieweit ist diese der
Persönlichkeit des Psychotherapeuten zuzuschreiben.“ (Körner 2015, 14)
Diesen Prozess sichtbar zu machen ist eine Kunst für
sich – je nach intellektueller Ausrichtung lässt sich das über den Weg der
Psychotherapieforschung, der psychotherapeutischen Fallsammlung, oder der
literarischen Verfremdung individueller Fälle erreichen. Allen diesen Versuchen
gemeinsam ist das – nicht immer ausdrücklich formulierte – Bemühen, der
Wirkungsweise von Psychotherapie auf die Spur zu kommen – in der Fachliteratur
finden sich dementsprechend Auflistungen möglicher Faktoren: „In der Prozess-
und Outcomeforschungwerden vier bedeutsame Wirkfaktoren unterschieden, die den
Therapieerfolg erklären: a) extratherapeutische Faktoren, wie die soziale
Unterstützung durch das Umfeld … b) allgemeine Wirkfaktoren, beispielsweise die
therapeutische Beziehung und die Empathie des Therapeuten … c) Erwartungen an
den Therapeuten bzw. die Persönlichkeit des Therapeuten … und d)
methodenspezifische Techniken bzw. Wirkfaktoren.“ (Hau et al. im Erscheinen)
Es gibt aber auch das Interesse, Psychotherapie als
Kulturtechnik selbst, in den Blick zu bekommen – die Soziologin Eva Illouz hat
sich der Psychotherapie sehr kritisch genähert und dabei zahlreiche empirischer
Befunde durch eine kritisch-soziologische Perspektive analysiert. Auch wenn sie
mit einem skeptischen Befund ihre Untersuchung beschlossen hat – die Auseinandersetzung
lohnt sich, um das Profil der Psychotherapie schärfen zu können.
Zur Autorin
Diplom Psychologin Dunja Hergenröther (Jg. 1971) (sie ist
dazu staatlich geprüfte Betriebswirtin) hat sich in den letzten Jahren
inhaltlich vor allem als Fallsupervisorin etabliert, die sich schwerpunktmäßig
mit dem Erstellen von Berichtsvorschlägen (VT, TP, AP) für das Antragsverfahren
beschäftigt hat. Ein weiter Arbeitsschwerpunkt liegt in der Diagnostik und
Therapieplanung. Daneben ist sie als freie Heilpraktikerin für Psychotherapie
tätig. Details finden sich hier: www.psychdienst.de
Sie publizierte 2011 erstmals das Buch „Praxisbuch
VT-Bericht“ im Deutschen Psychologen Verlag - www.psychologenverlag.de
Zuletzt hat sie eine Broschüre veröffentlicht, die man
über ihre homepage bestellen kann: „Fallstricke im Gutachterverfahren der
psychotherapeutischen Praxis“
Aufbau des Buches
Insgesamt werden vier Gruppen von Falldarstellungen
präsentiert. Die beiden Patientengruppen – Erwachsene sowie Kinder und
Jugendliche – werden jeweils im Bezugsrahmen der verhaltenstherapeutischen
Intervention sowie der psychodynamischen Therapie dargestellt. Das Buch ist
klar strukturiert und bereits das Inhaltsverzeichnis bildet diese Klarheit ab.
14 Falldarstellungen aus der Verhaltenstherapie
Erwachsener eröffnen inhaltlich das Buch. Danach folgen 9 Falldarstellungen aus
der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Der zweite Teil wird
eröffnet 14 Falldarstellungen von Kindern aus psychodynamischer Sicht, gefolgt
von 10 Falldarstellungen aus der psychodynamischen Therapie mit Jugendlichen
und jungen Erwachsenen. Das sechste Kapitel liefert eine Übersicht der
Fallbeispiele und das 7 Kapitel bringt eine konzise Zusammenfassung zur
Konfliktpathologie (Neurosenstruktur und Konfliktaspekte).
Das vorliegende Buch wird von der Autorin als Ergänzung
zu dem 2011 erschienenen „Praxisbuch VT-Bericht“ gesehen.
Die einzelnen Fallberichte folgen einem einheitlichen
Aufbau und sind jeweils mit einem markanten Titel versehen („Ich will tot
sein“, Zum Haare raufen“, „Die Chaotin“). Für die verhaltenstherapeutischen
Falldarstellungen kommt folgendes Schema zum Einsatz:
1. Vorstellungsgrund und Problematik
2. Psychopathologischer Untersuchungsbefund
3. Anamnese und Biografie
4. Problem- und Verhaltensanalyse
5. Konkrete Problemdarstellung
6. Diagnostische und differentzialdiagnostische
Überlegungen
7. Zielanalyse
8. Therapeutische Überlegungen
9. Therapieplanung und Verlauf
In der konkreten Problemdarstellung (Punkt 5) greift die
Autorin auf das S-O-R-(K-)C-Schema nach Kanfer und Saslow zurück: S – Stimulus
(die vorliegende Reizsituation innerer und äußerer Reize), O – Organismus (die
individuellen Ausgangsbedingungen und Persönlichkeitsdispositionen), R –
Reaktion (das beobachtbare Verhalten wird auf vier Ebenen beschrieben:
Rbehavioral, Remotional, Rkognitiv, Rphysiologisch), K – Kontingenz (hier
werden die zeitlichen Verhaltensausprägungen beschrieben), C – Konsequenz
(kurzfristige und langfristige Konsequenzen im Sinne einer Verstärkung oder
Bestrafung werden hier dargestellt).
Für die psychodynamischen Fallbesprechungen bedient sich
Dunja Hergenröther folgendem Schema:
1. Vorstellungsgrund und Problematik
2. Psychopathologischer Untersuchungsbefund
3. Anamnese und Biografie
4. Psychodynamische Hintergründe
5. Diagnostische und differenzialdiagnostische
Überlegungen
6. Zielanalyse und Therapieplanung.
Das Buch soll Orientierung und Hilfestellung anbieten für
Therapeuten und angehende Therapeuten, „die in ihrem therapeutischen Alltag
Hilfestellung beim Verfassen der Berichte an den Gutachter benötigen, ebenso
wie an Ausbildungskandidaten der entsprechenden Therapierichtungen, die
Unterstützung bei der Dokumentation ihrer eigenen Fälle benötigen.“ (Hergenröther 2015, 10)
Fazit
Was
zu kurz gekommen ist lässt sich anhand dreier Beispiele festmachen:
a)
Die Bedeutung der Psychotherapieforschung
Dokumentation
und transparente Nachvollziehbarkeit der Diagnose und der Therapieplanung,
sowie des Therapiefortschritts sind integrale Bestandteile einer transparenten
Psychotherapieforschung. Der Schwerpunkt der Autorin liegt im Folgeleisten der
Erfordernisse der Krankenkassen, weniger in der wissenschaftlichen Aufarbeitung
psychotherapeutischen Wirkens. Das strukturierte Vorgehen ist aber sehr wohl
dazu geeignet, auch dem wissenschaftlichen Interesse zu dienen – schade, dass
dieser Aspekt zu kurz gekommen ist.
b)
Erfolgsgeschichten als Referenz
In
dem vorliegenden Buch wird ausschließlich von Erfolgsgeschichten erzählt, dabei
sind es nachgewiesenermaßen die fehlerbehafteten Bemühungen, aus denen der
größte Lernerfolg gezogen werden kann. Fallbesprechungen, die nur erfolgreich
absolvierte Interventionen nachzeichnen, erlauben kein Lernen aus Fehlern oder
aus der fehlenden Passung zwischen Therapeuten/Therapierichtung und
Patient/Problemstellung.
c)
Verweis auf anderer Darstellungsverläufe von Psychotherapie
Das
Buch verfolgt ein klares Ziel – dem Leser eine strukturierte Orientierungshilfe
für die Falldokumentation an die Hand zu geben. Dieses Ziel erreicht die
Autorin vollends. Was dabei aber etwas zu kurz kommt ist, welche anderen
Möglichkeiten es gibt, psychotherapeutisches Wissen zu vermitteln, oder noch
spitzer formuliert: Was fehlt ist die Begründung dafür, weshalb psychotherapeutische
Fallgeschichten Möglichkeiten des Wissenserwerbs darstellen und wie sich diese
Form zu anderen Formen der Darstellung psychotherapeutischer Interventionen
verhält. (vgl. Grosz 2014, Jupiter 2012, Rolón 2014)
d)
Zur Schwierigkeit der Formulierung des Therapieziels
In
den Fallbesprechungen der verhaltenstherapeutischen Interventionen finden sich
in den jeweiligen Abschnitten zur „Zielanalyse“ bei Kindern und Jugendlichen Feststellungen
wie zum Beispiel „Mithilfe der Therapie möchte Herr N. selbstbewusster werden“,
„Julia wünscht sich mehr Selbstwertgefühl“ oder „Mithilfe der Psychotherapie
möchte Carola vor allem ihre Konzentrationsprobleme in den Griff bekommen“. (Hergenröther 2015, 63, 70, 90) – die Therapieziele
werden ausschließlich aus Patientensicht formuliert, auch im Falle von Kindern.
In den psychodynamischen Fallbesprechungen finden sich überwiegend
Formulierungen, die fremdbestimmt klingen: „Das primäre Ziel ist, die
Beschulung von Daniel wieder zu gewährleisten“, „Bei Laura wird die
Autonomieentwicklung im Vordergrund stehen“ oder „Pia soll den
psychodynamischen Hintergrund ihrer Unterwerfung erkennen“. (Hegenröther 2015, 121, 124, 159) Hinzu
kommt, dass in den psychodynamischen Zielformulierungen sehr stark auf
Modalverben zurückgegriffen wird (können, sollen, wollen, müssen, dürfen)
anstelle auf konkrete, faktische Beschreibungen. Die Autorin hat diese
augenfälligen Differenzen in keinem erläuternden Kommentar besprochen – gerade die
Selbstbestimmtheit in der Zielformulierung würde Anlass bieten, sich über die
jeweilige Ausrichtung der jeweiligen Psychotherapie klarer zu werden.
Dennoch:
Alles in allem hat Dunja Hergenröther ein sehr brauchbares Buch vorgelegt, das
sich durch seine Struktur und seinen Aufbau als sehr anschauliches
Dokumentationsbeispiel für psychotherapeutische Fallbeschreibungen eignet.
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Fabian, E. (2015). Humor und seine Bedeutung für die
Psychotherapie. Gießen (GER), Psychosozial Verlag
Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We
Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books
Hau, C. et al. (im Erscheinen). Vergleich
therapeutenspezifischer Wirkfaktoren im psychoanalytischen, psychoanalytisch
orientierten und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprozess der
Depression. Psychotherapie Forum (DOI 10.1007/s00729-015-0030-y)
Illouz, E. (2011 [2008]). Die Errettung der modernen Seele - Therapien,
Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
Jupiter, E. (2012). Die Angst vor Jakob - Psychotherapeutische
Geschichten. Wien (AUT), Picus Verlag
Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life
Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University
Press
Körner, J. (2015) Psychotherapeutische Kompetenzen. Ein Praxismodell zu
Kompetenzprofilen in der Aus- und Weiterbildung. Wiesbaden (GER), Springer
Fachmedien Wiesbaden
Rolón, G. (2014 [2007]). Auf der Couch - Wahre Geschichten aus der
Psychotherapie. München (GER), Btb Verlag
Ja, das sehe ich auch so - Psychotherapeuten verfügen über sehr viel destillierte Erfahrung, da sie mit Menschen zu tun haben, die sich in bewegten Zeiten an sie wenden - in Zeiten, wo ihnen das Leben große Herausforderungen aufbürdet, und sie sich weiterentwickeln wollen. Daher kann ich Menschen, die etwas über sich lernen wollen, Bücher über Psychotherapie guten Gewissens weiterempfehlen.
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