Donnerstag, 28. Mai 2015

Psychotherapie auf der Spur - Falldokumentationen



Hergenröther, D. (2015). Fallberichte aus der Psychotherapie - 47 Beispiele für eine erfolgreiche Falldokumentation im Antragsverfahren. Stuttgart (GER), Georg Thieme Verlag
 
Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.thieme.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Psychotherapie, Leid, Lebensform, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Fallgeschichten, Lebenskompetenz, Rezension

Psychotherapeutische Erfolgsgeschichten

„I believe all of us try to make sense of our lives by telling our stories.“ (Grosz 2014, 9)
Psychotherapie stellt für immer mehr Menschen einen gangbaren Weg zu einem integren Leben, zu einem bewusst gestalteten Leben dar. Psychotherapie als ganz besondere Wachstumsmöglichkeit – als ein Raum, in dem es möglich wird, unter Anleitung neue Perspektiven zu erarbeiten und mit Fehlurteilen und Fehlverhalten besser umgehen zu lernen. Egon Fabian führt konsequenterweise auch diese beiden Aspekte in seiner Definition der Ziele von Psychotherapie an: Leidensminderung und persönliches Wachstum - “Wenn das Ziel einer erfolgreichen Psychotherapie nicht nur in der Linderung von Leid und Konflikten besteht, sondern auch das innere Wachstum des Patienten fördern soll, dann muss der Patient allmählich lernen, sich über seine eigenen Probleme zu erheben bzw. diese aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“ (Fabian 2015, 118)

Der Mensch lernt aber nicht nur aus direkter, unmittelbarer Anschauung – auch das Lesen darüber, wie es anderen Menschen gelingt, ihre Probleme zu bewältigen, beziehungsweise, wie es Menschen gelingt, andere dabei anzuleiten, Leidensminderung und persönliches Wachstum zu erreichen, ist von Vorteil. Psychotherapeutische Erfolgsgeschichten – Fallbesprechungen, systematisch aufgearbeitet – bieten eine wertvolle Quelle an den Veränderungsprozessen anderer Menschen teilzuhaben. Dabei gilt aber: „Heute ist weniger interessant, was ein Patient in einem Vorher-Nachher-Vergleich an Veränderungen zu erkennen gibt als vielmehr der Prozess der psychotherapeutischen Veränderung selbst. Wie viel trägt die gewählte psychotherapeutische Methode zur Veränderung bei, inwieweit ist diese der Persönlichkeit des Psychotherapeuten zuzuschreiben.“ (Körner 2015, 14)

Diesen Prozess sichtbar zu machen ist eine Kunst für sich – je nach intellektueller Ausrichtung lässt sich das über den Weg der Psychotherapieforschung, der psychotherapeutischen Fallsammlung, oder der literarischen Verfremdung individueller Fälle erreichen. Allen diesen Versuchen gemeinsam ist das – nicht immer ausdrücklich formulierte – Bemühen, der Wirkungsweise von Psychotherapie auf die Spur zu kommen – in der Fachliteratur finden sich dementsprechend Auflistungen möglicher Faktoren: „In der Prozess- und Outcomeforschungwerden vier bedeutsame Wirkfaktoren unterschieden, die den Therapieerfolg erklären: a) extratherapeutische Faktoren, wie die soziale Unterstützung durch das Umfeld … b) allgemeine Wirkfaktoren, beispielsweise die therapeutische Beziehung und die Empathie des Therapeuten … c) Erwartungen an den Therapeuten bzw. die Persönlichkeit des Therapeuten … und d) methodenspezifische Techniken bzw. Wirkfaktoren.“ (Hau et al. im Erscheinen) 

Es gibt aber auch das Interesse, Psychotherapie als Kulturtechnik selbst, in den Blick zu bekommen – die Soziologin Eva Illouz hat sich der Psychotherapie sehr kritisch genähert und dabei zahlreiche empirischer Befunde durch eine kritisch-soziologische Perspektive analysiert. Auch wenn sie mit einem skeptischen Befund ihre Untersuchung beschlossen hat – die Auseinandersetzung lohnt sich, um das Profil der Psychotherapie schärfen zu können. 


Zur Autorin

Diplom Psychologin Dunja Hergenröther (Jg. 1971) (sie ist dazu staatlich geprüfte Betriebswirtin) hat sich in den letzten Jahren inhaltlich vor allem als Fallsupervisorin etabliert, die sich schwerpunktmäßig mit dem Erstellen von Berichtsvorschlägen (VT, TP, AP) für das Antragsverfahren beschäftigt hat. Ein weiter Arbeitsschwerpunkt liegt in der Diagnostik und Therapieplanung. Daneben ist sie als freie Heilpraktikerin für Psychotherapie tätig. Details finden sich hier: www.psychdienst.de
Sie publizierte 2011 erstmals das Buch „Praxisbuch VT-Bericht“ im Deutschen Psychologen Verlag - www.psychologenverlag.de
Zuletzt hat sie eine Broschüre veröffentlicht, die man über ihre homepage bestellen kann: „Fallstricke im Gutachterverfahren der psychotherapeutischen Praxis“

Aufbau des Buches

Insgesamt werden vier Gruppen von Falldarstellungen präsentiert. Die beiden Patientengruppen – Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche – werden jeweils im Bezugsrahmen der verhaltenstherapeutischen Intervention sowie der psychodynamischen Therapie dargestellt. Das Buch ist klar strukturiert und bereits das Inhaltsverzeichnis bildet diese Klarheit ab.
14 Falldarstellungen aus der Verhaltenstherapie Erwachsener eröffnen inhaltlich das Buch. Danach folgen 9 Falldarstellungen aus der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Der zweite Teil wird eröffnet 14 Falldarstellungen von Kindern aus psychodynamischer Sicht, gefolgt von 10 Falldarstellungen aus der psychodynamischen Therapie mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das sechste Kapitel liefert eine Übersicht der Fallbeispiele und das 7 Kapitel bringt eine konzise Zusammenfassung zur Konfliktpathologie (Neurosenstruktur und Konfliktaspekte).

Das vorliegende Buch wird von der Autorin als Ergänzung zu dem 2011 erschienenen „Praxisbuch VT-Bericht“ gesehen. 

Die einzelnen Fallberichte folgen einem einheitlichen Aufbau und sind jeweils mit einem markanten Titel versehen („Ich will tot sein“, Zum Haare raufen“, „Die Chaotin“). Für die verhaltenstherapeutischen Falldarstellungen kommt folgendes Schema zum Einsatz:
1. Vorstellungsgrund und Problematik
2. Psychopathologischer Untersuchungsbefund
3. Anamnese und Biografie
4. Problem- und Verhaltensanalyse
5. Konkrete Problemdarstellung
6. Diagnostische und differentzialdiagnostische Überlegungen
7. Zielanalyse
8. Therapeutische Überlegungen
9. Therapieplanung und Verlauf

In der konkreten Problemdarstellung (Punkt 5) greift die Autorin auf das S-O-R-(K-)C-Schema nach Kanfer und Saslow zurück: S – Stimulus (die vorliegende Reizsituation innerer und äußerer Reize), O – Organismus (die individuellen Ausgangsbedingungen und Persönlichkeitsdispositionen), R – Reaktion (das beobachtbare Verhalten wird auf vier Ebenen beschrieben: Rbehavioral, Remotional, Rkognitiv, Rphysiologisch), K – Kontingenz (hier werden die zeitlichen Verhaltensausprägungen beschrieben), C – Konsequenz (kurzfristige und langfristige Konsequenzen im Sinne einer Verstärkung oder Bestrafung werden hier dargestellt).
Für die psychodynamischen Fallbesprechungen bedient sich Dunja Hergenröther folgendem Schema:
1. Vorstellungsgrund und Problematik
2. Psychopathologischer Untersuchungsbefund
3. Anamnese und Biografie
4. Psychodynamische Hintergründe
5. Diagnostische und differenzialdiagnostische Überlegungen
6. Zielanalyse und Therapieplanung.
Das Buch soll Orientierung und Hilfestellung anbieten für Therapeuten und angehende Therapeuten, „die in ihrem therapeutischen Alltag Hilfestellung beim Verfassen der Berichte an den Gutachter benötigen, ebenso wie an Ausbildungskandidaten der entsprechenden Therapierichtungen, die Unterstützung bei der Dokumentation ihrer eigenen Fälle benötigen.“ (Hergenröther 2015, 10)

Fazit

Was zu kurz gekommen ist lässt sich anhand dreier Beispiele festmachen:

a) Die Bedeutung der Psychotherapieforschung
Dokumentation und transparente Nachvollziehbarkeit der Diagnose und der Therapieplanung, sowie des Therapiefortschritts sind integrale Bestandteile einer transparenten Psychotherapieforschung. Der Schwerpunkt der Autorin liegt im Folgeleisten der Erfordernisse der Krankenkassen, weniger in der wissenschaftlichen Aufarbeitung psychotherapeutischen Wirkens. Das strukturierte Vorgehen ist aber sehr wohl dazu geeignet, auch dem wissenschaftlichen Interesse zu dienen – schade, dass dieser Aspekt zu kurz gekommen ist.

b) Erfolgsgeschichten als Referenz
In dem vorliegenden Buch wird ausschließlich von Erfolgsgeschichten erzählt, dabei sind es nachgewiesenermaßen die fehlerbehafteten Bemühungen, aus denen der größte Lernerfolg gezogen werden kann. Fallbesprechungen, die nur erfolgreich absolvierte Interventionen nachzeichnen, erlauben kein Lernen aus Fehlern oder aus der fehlenden Passung zwischen Therapeuten/Therapierichtung und Patient/Problemstellung. 

c) Verweis auf anderer Darstellungsverläufe von Psychotherapie
Das Buch verfolgt ein klares Ziel – dem Leser eine strukturierte Orientierungshilfe für die Falldokumentation an die Hand zu geben. Dieses Ziel erreicht die Autorin vollends. Was dabei aber etwas zu kurz kommt ist, welche anderen Möglichkeiten es gibt, psychotherapeutisches Wissen zu vermitteln, oder noch spitzer formuliert: Was fehlt ist die Begründung dafür, weshalb psychotherapeutische Fallgeschichten Möglichkeiten des Wissenserwerbs darstellen und wie sich diese Form zu anderen Formen der Darstellung psychotherapeutischer Interventionen verhält. (vgl. Grosz 2014, Jupiter 2012, Rolón 2014)

d) Zur Schwierigkeit der Formulierung des Therapieziels
In den Fallbesprechungen der verhaltenstherapeutischen Interventionen finden sich in den jeweiligen Abschnitten zur „Zielanalyse“ bei Kindern und Jugendlichen Feststellungen wie zum Beispiel „Mithilfe der Therapie möchte Herr N. selbstbewusster werden“, „Julia wünscht sich mehr Selbstwertgefühl“ oder „Mithilfe der Psychotherapie möchte Carola vor allem ihre Konzentrationsprobleme in den Griff bekommen“. (Hergenröther 2015, 63, 70, 90) – die Therapieziele werden ausschließlich aus Patientensicht formuliert, auch im Falle von Kindern. In den psychodynamischen Fallbesprechungen finden sich überwiegend Formulierungen, die fremdbestimmt klingen: „Das primäre Ziel ist, die Beschulung von Daniel wieder zu gewährleisten“, „Bei Laura wird die Autonomieentwicklung im Vordergrund stehen“ oder „Pia soll den psychodynamischen Hintergrund ihrer Unterwerfung erkennen“. (Hegenröther 2015, 121, 124, 159) Hinzu kommt, dass in den psychodynamischen Zielformulierungen sehr stark auf Modalverben zurückgegriffen wird (können, sollen, wollen, müssen, dürfen) anstelle auf konkrete, faktische Beschreibungen. Die Autorin hat diese augenfälligen Differenzen in keinem erläuternden Kommentar besprochen – gerade die Selbstbestimmtheit in der Zielformulierung würde Anlass bieten, sich über die jeweilige Ausrichtung der jeweiligen Psychotherapie klarer zu werden.

Dennoch: Alles in allem hat Dunja Hergenröther ein sehr brauchbares Buch vorgelegt, das sich durch seine Struktur und seinen Aufbau als sehr anschauliches Dokumentationsbeispiel für psychotherapeutische Fallbeschreibungen eignet.


Harald G. Kratochvila, Wien


Verwendete Literatur:

Fabian, E. (2015). Humor und seine Bedeutung für die Psychotherapie. Gießen (GER), Psychosozial Verlag

Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books

Hau, C. et al. (im Erscheinen). Vergleich therapeutenspezifischer Wirkfaktoren im psychoanalytischen, psychoanalytisch orientierten und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprozess der Depression. Psychotherapie Forum (DOI 10.1007/s00729-015-0030-y)

Illouz, E. (2011 [2008]). Die Errettung der modernen Seele - Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Jupiter, E. (2012). Die Angst vor Jakob - Psychotherapeutische Geschichten. Wien (AUT), Picus Verlag

Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University Press

Körner, J. (2015) Psychotherapeutische Kompetenzen. Ein Praxismodell zu Kompetenzprofilen in der Aus- und Weiterbildung. Wiesbaden (GER), Springer Fachmedien Wiesbaden

Rolón, G. (2014 [2007]). Auf der Couch - Wahre Geschichten aus der Psychotherapie. München (GER), Btb Verlag

1 Kommentar:

  1. Ja, das sehe ich auch so - Psychotherapeuten verfügen über sehr viel destillierte Erfahrung, da sie mit Menschen zu tun haben, die sich in bewegten Zeiten an sie wenden - in Zeiten, wo ihnen das Leben große Herausforderungen aufbürdet, und sie sich weiterentwickeln wollen. Daher kann ich Menschen, die etwas über sich lernen wollen, Bücher über Psychotherapie guten Gewissens weiterempfehlen.

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