Neiman, S. (2015 [2014]). Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. München (GER), Hanser Berlin
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt:
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Aufklärung, Konsumgesellschaft, Philosophie,
das gute Leben, Lebenskompetenz
Orientierungspunkte
Individuelle und gesellschaftliche Krisen sind Anfang
und Ende von bestimmten Entwicklungen, und werden von den meisten Menschen auch
in diesem Sinne verstanden – es sind nicht immer nur akute
gesellschaftspolitische Krisen, wie Entführungen in Nigeria, oder der ethnische
Konflikt in Mazedonien, die Bedrohung der Gesellschaften durch militante
Gruppen, die Menschen in ihrer Routine nachdenklich einhalten lassen, sondern
es sind genauso Probleme, die sich über einen längeren Zeitraum ziehen, die
unsere Aufmerksamkeit erregen: die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern,
die Vertreibung von Menschen, die katastrophalen Arbeitsbedingungen eines Großteils
der Menschen in Südostasien, und weiten Teilen Afrikas. Individuelle
Herausforderungen, wie Krankheit, Tod von Angehörigen, Lebenskrisen – sind es
genauso, die Fragen aufwerfen, denen wir uns jeder für sich stellen müssen.
Hinter all diesen Phänomenen taucht aber auch die Zuschreibung auf, mit der
sich viele Menschen scheinbar abgefunden haben – es macht sich eine
Bequemlichkeit und Passivität breit, die politisch anhand der sinkenden
Wahlbeteiligung sichtbar, und die im täglichen Leben durch den steigenden Zynismus
zwischen den Menschen spürbar werden.
Gegenpositionen sind rar, aber doch zu finden. So zum
Beispiel in einem Interview mit der amerikanischen Psychologin Ellen Langer,
ältestes Fakultätsmitglied am Institut für Psychologie der Universität von
Harvard: “But let me explain to you that it’s the culture that teaches us that
we have no control … I’m blaming the culture.” Langer imagines a day when
blame isn’t the first thing people reach for when things go awry. Instead, we
will simply bring to bear the power of our own minds — which she believes will
turn out to be far greater than we imagined.” (Grierson 2014)
Die Suche nach dieser Kraft des eigenen Denkens ist
sehr oft mit Unsicherheit verbunden – wir werden verunsichert durch das, was
uns widerfährt – individuell, als auch im Kollektiv: „Die radikale Unsicherheit läßt in
dieser Zeit die Frage nach dem Menschen aufkommen. Es ist die Frage des
Individuums nach sich selbst. Es will wissen, was es mit seinem endlichen
Wissen, was es mit seinem endlichen Sein in der Welt auf sich hat. Es ist dies
die sein Leben entscheidende Frage. Sie hat ihren Ursprung in der Sorge um sein
Sein. Ihre Beantwortung soll grundsätzlich darüber Auskunft geben, wie die
Menschen in der Welt stehen und wie sie in ihr leben sollen, in welcher Weise
sie um ihr Sein Sorge zu tragen haben.“ (Mader
1992: 134-135)
Diese
Sorgen um sich ist natürlich auch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden: „Wenn
alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen,
die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie
entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es
nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.“ (Heinrich von Kleist an Wilhemine von
Zenge, 22. März 1801) Es sind also die Vorannahmen, Vorurteile, Vorwegnahmen,
die den Menschen, gleich den grünen Gläsern, ihre Perspektive färben. Und wenn
es alles nur ein Mind-Set wäre? (vgl. Grierson
2014)
Zur Autorin
Susan Neiman ist akademische Philosophin (Jg. 1955), die in
den letzten Jahren etliche Bücher zu moralphilosophischen Themen sowie Themen
der politischen Philosophie verfasst hat. Zur Zeit ist sie Direktorin am
Einstein Forum in Potsdam (www.einsteinforum.de).
Mehr Information zu ihr findet sich auf ihrer Webseite: www.susan-neiman.de
Warum erwachsen werden? (Aufbau des Buches)
Robert Bly hat vor einigen Jahren eine – konservativ
durchsetzte - Kritik der amerikanischen Gesellschaft formuliert, die ein Thema
aufgreift, dem sich Susan Neiman in ihrem Buch stellt: „Erwachsene entwickeln
sich in die Adoleszenz zurück, Heranwachsende, die diese Tendenz beobachten,
verspüren keinen Antrieb, erwachsen zu werden. Nur wenige können sich überhaupt
vorstellen, dass authentisches Leben aus einer vertikalen Orientierung – aus
Tradition, Religion, Hingabe an geistige Werte – kommen könnte.“ (Bly 1996: o.S) Er spricht in diesem
Zusammenhang auch davon, dass wir von Halberwachsenen umspült werden: „In
vielerlei Hinsicht leben wir heute in einer Kultur, die von Halberwachsenen
geprägt wird.“ (Bly 1996: o.S.) („Swimming Among the Half-Adults“)
Susan Neiman fokussiert sich in ihrem Zugang nicht so
sehr auf diese konservativen Wertvorstellungen, vielmehr auf die Dynamik und
die Kreativität menschlichen Denkens und eine ihrer Antworten auf die Frage
„Warum erwachsen werden?“ lautet dann auch: „Weil es schwieriger ist, als Sie
denken, so schwierig, dass es einem Widerstand gleichkommen kann.“ (Neiman 2015, 193)
Warum erwachsen werden? – ein Buch, das keine einfachen,
raschen Lösungen propagiert, ein Buch, das ohne Verweis auf Autoritäten und
etablierte Sinnsysteme auskommt. Ein Buch, das dazu auffordert, sich den
Gestaltungsspielraum bewusst zu machen, der zwischen der Wirklichkeit und der
Möglichkeit liegt – ein Buch, das der Frage nach dem Warum eine große Bedeutung
schenkt: „Zur Vernunft gehört die Fähigkeit, nach dem Warum zu fragen, die
ihrerseits eine Vorstellung von Möglichkeit voraussetzt: Die Dinge hätten auch
anders sein können, warum sind sie gerade so?“ (Neiman 2015, 97)
Susan Neiman geht in ihrem Buch davon aus, dass
Philosophie eine der Möglichkeiten darstellt, Reife zu erlangen – eine Reife,
die nicht durch ihre Abgeklärtheit und Distanziertheit der Lebendigkeit den
Garaus machen würde: „Kann die Philosophie uns helfen, ein Modell für Reife zu
finden, das nicht resignativ ist? … Ich glaube, sie kann es …“ (Neiman 2015, 10)
Dieser Glaube stützt sich auf die Beobachtung, dass
Erwachsensein mehr ist, als was sich viele von uns darunter vorstellen (vgl. Neiman 2015, 228) Es ist eben mehr, als
die bloße Anhäufung von Lebensjahren, mehr als bloß der Jugend folgende
Lebensabschnitt. „Es wird die These vertreten, dass Erwachsensein selbst ein
Ideal ist, ein subversives Ideal, das nie vollkommen erreicht werden wird, nach
dem zu streben sich aber umso mehr lohnt.“ (Neiman 2015, 28)
Worum es geht, ist also die Sorge um sich selbst und
andere zu kultivieren – wie diese Kulturarbeit in Bezug auf Lernen, Reisen und
Arbeiten aussehen kann, das lässt sich in den einzelnen Kapiteln dazu
nachlesen. Im ersten Teil – Historische Hintergründe – beschreibt Susan Neiman
die Idee der Aufklärung und die Theorien, die damit in Zusammenhang stehen. Das
folgende Kapitel – Säuglinge, Kinder, Jugendliche – beschreibt, wie sich die
Idee der Kindheit im Laufe der Jahrhunderte durchgesetzt hat, und welche
Ansprüche und Erwartungen damit verbunden sind. Das dritte Kapitel führt die
Überlegungen zum Erwachsenwerden zusammen und benennt drei Aufgaben bzw.
Herausforderungen, die mit dem Erwachsenverden untrennbar verknüpft sind:
Erziehung, Reisen, Arbeit. Das vierte Kapitel gibt nochmals eine Zusammenschau
der wesentlichen Argumente.
Fazit
Sich selbst und
andere besser zu verstehen, das ist auch für den amerikanischen Philosophen
Robert Nozick ein Zeichen des Erwachsenwerdens: „Ein Nachdenken über das Leben
ist jedoch mehr wie ein Nachsinnen, und das vollständigere Verständnis, zu dem
es führt, fühlt sich nicht wie das Überschreiten einer Ziellinie an, bei dem es
einem immer noch gelingt, den Stab festzuhalten; es fühlt sich an, als werde
man erwachsener.“ (Nozick 1991: 10)
Genauso wie Susan Neiman, fasst er dieses Erwachsenwerden nicht als einen
Zielzustand auf – sie spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer
„permanenten Revolution“ (Neiman
2015, 230) Diese permanente Revolution ist mit Hürden und Hindernissen
verbunden – aber auch mit Schmerzen und Leid: „… dass eine gesunde Zahl von
blauen Flecken durch Straucheln und Hinfallen weitaus besser ist, als die
Hätschelei, die [uns – Einfügung von HGK] hindert, auf eigenen Beinen zu
stehen.“ (Neiman 2015, 78). Die
Konsumgesellschaft stellt eine solche Hätschelei dar, die uns daran hindert,
wirklich frei zu sein, oder auf eigenen Beinen zu stehen: „Wirklich frei zu
sein heißt, Kontrolle über sein ganzes Leben zu haben; es heißt lernen, Pläne
zu machen, Versprechen abzugeben und Entscheidungen zu treffen, Verantwortung
für das eigene Tun und dessen Folgen zu übernehmen.“ (Neiman 2015, 66)
Die Auffassung,
dass das Faktische etwas Gegebenes darstelle, muss nicht geteilt werden, um den
Argumenten von Susan Neiman zu folgen: „Das Faktische ist uns ohne jede
bewusste Anstrengung unsererseits gegeben; um Mögliches zu erfassen, bedarf es
der Vernunft.“ (Neiman 2015, 97)
Gerade die Wahrnehmung ist etwas Erlerntes, und hat sehr viel mit der
Bedeutungskonstruktion zu tun, die wir leisten (vgl. dazu Peter M. Bak 2012).
Jedenfalls ist
diese permanente Revolution eine Reaktion auf die Situationen unseres täglichen
Lebens. Susan Neiman liefert in ihrem Buch ein Plädoyer für mutige
Lebensentscheidungen, mit denen wir den Gestaltungsspielraum unseres Lebens
erweitern sollen – nicht nur in privaten Angelegenheiten, sondern auch in
gesellschaftlichen Belangen. Bei dem österreichischen Psychiater Viktor Frank heist
es dazu in einem, Vortrag:„ … human behavior is really human, to the extent to
which it means ‘acting into the world’. This in turn, implies being motivated
by the world. In fact, the world toward which a human being transcends itself,
is a world replete with meanings that constitute the reason to act –and other
human beings who constitute the persons to love.” (Frankl 1980: 255) Das, was bei Frankl
„acting into the world“ genannt wird, lässt sich im Buch von Susan Neiman als
die Trias Lernen, Reisen, Arbeiten verstehen. Aktivitäten, die uns dabei
helfen, die Bequemlichkeit und Passivität zu überwinden, die Susan Neiman in
ihrem Buch immer wieder beschrieben hat.
Mit dem
deutschen Psychologen Peter Bak lässt sich dieser Prozess auch als Suche nach
Bedeutung verstehen: „Bedeutung ist demnach der Erkenntnisschlüssel zu uns und
zu anderen. Daraus lässt sich auch eine ethische Komponente von Bedeutung
ableiten. Wenn wir unsere Bedeutungen kennen, kennen wir uns. Und es zeigt uns
die Möglichkeiten auf, unser Leben so oder anders zu gestalten. Gleichzeitig
sind wir bei der Beurteilung und Bewertung der uns umgebenden Menschen und
Situationen zur Vorsicht gemahnt. Deren Erleben und Verhalten lässt sich nur
aus deren Bedeutungssystem ableiten, was zu kennen uns verwehrt bleiben wird.
Dies im eigenen Erleben und Verhalten zu berücksichtigen mag tatsächlich eine
der besten Möglichkeiten darstellen, die Menge ähnlicher Welt-Bedeutungen zu
erweitern und dadurch die Chance auf gegenseitiges Verständnis und eine
friedvolle Koexistenz der Bedeutungsgeber zu erhöhen.“ (Bak 2012: 9) Durch
Lernen, Reisen und Arbeiten erweitern wir die Bedeutungsvielfalt, die uns zur
Verfügung steht und damit auch unseren Handlungsspielraum. Was in diesem Buch
als Erwachsensein beschrieben wird, kann auch als diese Erweiterung dieser
individuellen Lebenskompetenz aufgefasst werden. Susan Neiman ist sich darüber im
Klaren, dass dieses Erwachsenwerden mit Entbehrungen und Widerständen verbunden
ist – “Mut ist nötig, um den Kräften zu widerstehen, die weiterhin gegen
Mündigkeit arbeiten warden, den wirklich mündige Erwachsene lassen sich nicht
lange mit Brot und Spielen ablenken.” (Neiman
2015, 230)
Schließlich
gilt, was Terézia Mora in ihren Frankfurter Poesievorlesungen thematisiert hat:
“Man kann nicht alles an einem Ort finden.” (Mora 2015: 92) Das gilt für Bedeutungen ebenso, wie für Einsichten
und Ideen …
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete
Literatur:
Bak, P. M.
(2012). "Über das Wesen von Bedeutung." Philosophie der Psychologie.
Bly, R. (1996
[1996]). Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung erwachsen zu werden.
München (GER), Kindler Verlag
Frankl, V. E. (1991 [1980]). Psychotherapy
on Its Way to Rehumanization. In Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn. München
(GER), Piper Verlag
Grierson, B.
(2014). What If Age is Nothing but a Mind-Set? The New York Times Magazine, 22.
Oktober 2014
Link: www.nytimes.com/2014/10/26/magazine/what-if-age-is-nothing-but-a-mind-set.html?ref=magazine&_r=1 (letzter Zugriff: 07. Mai 2015)
Mader, J. (1992). Von Parmenides
zu Hegel. Einführung in die Philosophie I. Wien (AUT),
WUV-Universitätsverlag
Mora, T. (2014). Nicht sterben - Frankfurter
Poetik-Vorlesungen. München (GER), Luchterhand Literaturverlag
Nozick, R. (1991 [1989]). Vom richtigen, guten und glücklichen
Leben. München (GER) & Wien (AUT), Carl Hanser Verlag
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