Sonntag, 10. Mai 2015

Orientierung im Leben – Das Erwachsenwerden als Ziel menschlichen Lebens


Neiman, S. (2015 [2014]). Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. München (GER), Hanser Berlin 
 
Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt:

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Aufklärung, Konsumgesellschaft, Philosophie, das gute Leben, Lebenskompetenz

Orientierungspunkte

Individuelle und gesellschaftliche Krisen sind Anfang und Ende von bestimmten Entwicklungen, und werden von den meisten Menschen auch in diesem Sinne verstanden – es sind nicht immer nur akute gesellschaftspolitische Krisen, wie Entführungen in Nigeria, oder der ethnische Konflikt in Mazedonien, die Bedrohung der Gesellschaften durch militante Gruppen, die Menschen in ihrer Routine nachdenklich einhalten lassen, sondern es sind genauso Probleme, die sich über einen längeren Zeitraum ziehen, die unsere Aufmerksamkeit erregen: die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern, die Vertreibung von Menschen, die katastrophalen Arbeitsbedingungen eines Großteils der Menschen in Südostasien, und weiten Teilen Afrikas. Individuelle Herausforderungen, wie Krankheit, Tod von Angehörigen, Lebenskrisen – sind es genauso, die Fragen aufwerfen, denen wir uns jeder für sich stellen müssen. Hinter all diesen Phänomenen taucht aber auch die Zuschreibung auf, mit der sich viele Menschen scheinbar abgefunden haben – es macht sich eine Bequemlichkeit und Passivität breit, die politisch anhand der sinkenden Wahlbeteiligung sichtbar, und die im täglichen Leben durch den steigenden Zynismus zwischen den Menschen spürbar werden.

Gegenpositionen sind rar, aber doch zu finden. So zum Beispiel in einem Interview mit der amerikanischen Psychologin Ellen Langer, ältestes Fakultätsmitglied am Institut für Psychologie der Universität von Harvard: “But let me explain to you that it’s the culture that teaches us that we have no control … I’m blaming the culture.” Langer imagines a day when blame isn’t the first thing people reach for when things go awry. Instead, we will simply bring to bear the power of our own minds — which she believes will turn out to be far greater than we imagined.” (Grierson 2014)

Die Suche nach dieser Kraft des eigenen Denkens ist sehr oft mit Unsicherheit verbunden – wir werden verunsichert durch das, was uns widerfährt – individuell, als auch im Kollektiv: „Die radikale Unsicherheit läßt in dieser Zeit die Frage nach dem Menschen aufkommen. Es ist die Frage des Individuums nach sich selbst. Es will wissen, was es mit seinem endlichen Wissen, was es mit seinem endlichen Sein in der Welt auf sich hat. Es ist dies die sein Leben entscheidende Frage. Sie hat ihren Ursprung in der Sorge um sein Sein. Ihre Beantwortung soll grundsätzlich darüber Auskunft geben, wie die Menschen in der Welt stehen und wie sie in ihr leben sollen, in welcher Weise sie um ihr Sein Sorge zu tragen haben.“ (Mader 1992: 134-135)

Diese Sorgen um sich ist natürlich auch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.“ (Heinrich von Kleist an Wilhemine von Zenge, 22. März 1801) Es sind also die Vorannahmen, Vorurteile, Vorwegnahmen, die den Menschen, gleich den grünen Gläsern, ihre Perspektive färben. Und wenn es alles nur ein Mind-Set wäre? (vgl. Grierson 2014) 

Zur Autorin 

Susan Neiman ist akademische Philosophin (Jg. 1955), die in den letzten Jahren etliche Bücher zu moralphilosophischen Themen sowie Themen der politischen Philosophie verfasst hat. Zur Zeit ist sie Direktorin am Einstein Forum in Potsdam (www.einsteinforum.de). Mehr Information zu ihr findet sich auf ihrer Webseite: www.susan-neiman.de 

Warum erwachsen werden? (Aufbau des Buches) 

Robert Bly hat vor einigen Jahren eine – konservativ durchsetzte - Kritik der amerikanischen Gesellschaft formuliert, die ein Thema aufgreift, dem sich Susan Neiman in ihrem Buch stellt: „Erwachsene entwickeln sich in die Adoleszenz zurück, Heranwachsende, die diese Tendenz beobachten, verspüren keinen Antrieb, erwachsen zu werden. Nur wenige können sich überhaupt vorstellen, dass authentisches Leben aus einer vertikalen Orientierung – aus Tradition, Religion, Hingabe an geistige Werte – kommen könnte.“ (Bly 1996: o.S) Er spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass wir von Halberwachsenen umspült werden: „In vielerlei Hinsicht leben wir heute in einer Kultur, die von Halberwachsenen geprägt wird.“ (Bly 1996: o.S.) („Swimming Among the Half-Adults“)
Susan Neiman fokussiert sich in ihrem Zugang nicht so sehr auf diese konservativen Wertvorstellungen, vielmehr auf die Dynamik und die Kreativität menschlichen Denkens und eine ihrer Antworten auf die Frage „Warum erwachsen werden?“ lautet dann auch: „Weil es schwieriger ist, als Sie denken, so schwierig, dass es einem Widerstand gleichkommen kann.“ (Neiman 2015, 193)
Warum erwachsen werden? – ein Buch, das keine einfachen, raschen Lösungen propagiert, ein Buch, das ohne Verweis auf Autoritäten und etablierte Sinnsysteme auskommt. Ein Buch, das dazu auffordert, sich den Gestaltungsspielraum bewusst zu machen, der zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit liegt – ein Buch, das der Frage nach dem Warum eine große Bedeutung schenkt: „Zur Vernunft gehört die Fähigkeit, nach dem Warum zu fragen, die ihrerseits eine Vorstellung von Möglichkeit voraussetzt: Die Dinge hätten auch anders sein können, warum sind sie gerade so?“ (Neiman 2015, 97)
Susan Neiman geht in ihrem Buch davon aus, dass Philosophie eine der Möglichkeiten darstellt, Reife zu erlangen – eine Reife, die nicht durch ihre Abgeklärtheit und Distanziertheit der Lebendigkeit den Garaus machen würde: „Kann die Philosophie uns helfen, ein Modell für Reife zu finden, das nicht resignativ ist? … Ich glaube, sie kann es …“ (Neiman 2015, 10)
Dieser Glaube stützt sich auf die Beobachtung, dass Erwachsensein mehr ist, als was sich viele von uns darunter vorstellen (vgl. Neiman 2015, 228) Es ist eben mehr, als die bloße Anhäufung von Lebensjahren, mehr als bloß der Jugend folgende Lebensabschnitt. „Es wird die These vertreten, dass Erwachsensein selbst ein Ideal ist, ein subversives Ideal, das nie vollkommen erreicht werden wird, nach dem zu streben sich aber umso mehr lohnt.“ (Neiman 2015, 28)
Worum es geht, ist also die Sorge um sich selbst und andere zu kultivieren – wie diese Kulturarbeit in Bezug auf Lernen, Reisen und Arbeiten aussehen kann, das lässt sich in den einzelnen Kapiteln dazu nachlesen. Im ersten Teil – Historische Hintergründe – beschreibt Susan Neiman die Idee der Aufklärung und die Theorien, die damit in Zusammenhang stehen. Das folgende Kapitel – Säuglinge, Kinder, Jugendliche – beschreibt, wie sich die Idee der Kindheit im Laufe der Jahrhunderte durchgesetzt hat, und welche Ansprüche und Erwartungen damit verbunden sind. Das dritte Kapitel führt die Überlegungen zum Erwachsenwerden zusammen und benennt drei Aufgaben bzw. Herausforderungen, die mit dem Erwachsenverden untrennbar verknüpft sind: Erziehung, Reisen, Arbeit. Das vierte Kapitel gibt nochmals eine Zusammenschau der wesentlichen Argumente. 

Fazit

Sich selbst und andere besser zu verstehen, das ist auch für den amerikanischen Philosophen Robert Nozick ein Zeichen des Erwachsenwerdens: „Ein Nachdenken über das Leben ist jedoch mehr wie ein Nachsinnen, und das vollständigere Verständnis, zu dem es führt, fühlt sich nicht wie das Überschreiten einer Ziellinie an, bei dem es einem immer noch gelingt, den Stab festzuhalten; es fühlt sich an, als werde man erwachsener.“ (Nozick 1991: 10) Genauso wie Susan Neiman, fasst er dieses Erwachsenwerden nicht als einen Zielzustand auf – sie spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „permanenten Revolution“ (Neiman 2015, 230) Diese permanente Revolution ist mit Hürden und Hindernissen verbunden – aber auch mit Schmerzen und Leid: „… dass eine gesunde Zahl von blauen Flecken durch Straucheln und Hinfallen weitaus besser ist, als die Hätschelei, die [uns – Einfügung von HGK] hindert, auf eigenen Beinen zu stehen.“ (Neiman 2015, 78). Die Konsumgesellschaft stellt eine solche Hätschelei dar, die uns daran hindert, wirklich frei zu sein, oder auf eigenen Beinen zu stehen: „Wirklich frei zu sein heißt, Kontrolle über sein ganzes Leben zu haben; es heißt lernen, Pläne zu machen, Versprechen abzugeben und Entscheidungen zu treffen, Verantwortung für das eigene Tun und dessen Folgen zu übernehmen.“ (Neiman 2015, 66)

Die Auffassung, dass das Faktische etwas Gegebenes darstelle, muss nicht geteilt werden, um den Argumenten von Susan Neiman zu folgen: „Das Faktische ist uns ohne jede bewusste Anstrengung unsererseits gegeben; um Mögliches zu erfassen, bedarf es der Vernunft.“ (Neiman 2015, 97) Gerade die Wahrnehmung ist etwas Erlerntes, und hat sehr viel mit der Bedeutungskonstruktion zu tun, die wir leisten (vgl. dazu Peter M. Bak 2012).

Jedenfalls ist diese permanente Revolution eine Reaktion auf die Situationen unseres täglichen Lebens. Susan Neiman liefert in ihrem Buch ein Plädoyer für mutige Lebensentscheidungen, mit denen wir den Gestaltungsspielraum unseres Lebens erweitern sollen – nicht nur in privaten Angelegenheiten, sondern auch in gesellschaftlichen Belangen. Bei dem österreichischen Psychiater Viktor Frank heist es dazu in einem, Vortrag:„ … human behavior is really human, to the extent to which it means ‘acting into the world’. This in turn, implies being motivated by the world. In fact, the world toward which a human being transcends itself, is a world replete with meanings that constitute the reason to act –and other human beings who constitute the persons to love.” (Frankl 1980: 255) Das, was bei Frankl „acting into the world“ genannt wird, lässt sich im Buch von Susan Neiman als die Trias Lernen, Reisen, Arbeiten verstehen. Aktivitäten, die uns dabei helfen, die Bequemlichkeit und Passivität zu überwinden, die Susan Neiman in ihrem Buch immer wieder beschrieben hat.

Mit dem deutschen Psychologen Peter Bak lässt sich dieser Prozess auch als Suche nach Bedeutung verstehen: „Bedeutung ist demnach der Erkenntnisschlüssel zu uns und zu anderen. Daraus lässt sich auch eine ethische Komponente von Bedeutung ableiten. Wenn wir unsere Bedeutungen kennen, kennen wir uns. Und es zeigt uns die Möglichkeiten auf, unser Leben so oder anders zu gestalten. Gleichzeitig sind wir bei der Beurteilung und Bewertung der uns umgebenden Menschen und Situationen zur Vorsicht gemahnt. Deren Erleben und Verhalten lässt sich nur aus deren Bedeutungssystem ableiten, was zu kennen uns verwehrt bleiben wird. Dies im eigenen Erleben und Verhalten zu berücksichtigen mag tatsächlich eine der besten Möglichkeiten darstellen, die Menge ähnlicher Welt-Bedeutungen zu erweitern und dadurch die Chance auf gegenseitiges Verständnis und eine friedvolle Koexistenz der Bedeutungsgeber zu erhöhen.“ (Bak 2012: 9) Durch Lernen, Reisen und Arbeiten erweitern wir die Bedeutungsvielfalt, die uns zur Verfügung steht und damit auch unseren Handlungsspielraum. Was in diesem Buch als Erwachsensein beschrieben wird, kann auch als diese Erweiterung dieser individuellen Lebenskompetenz aufgefasst werden. Susan Neiman ist sich darüber im Klaren, dass dieses Erwachsenwerden mit Entbehrungen und Widerständen verbunden ist – “Mut ist nötig, um den Kräften zu widerstehen, die weiterhin gegen Mündigkeit arbeiten warden, den wirklich mündige Erwachsene lassen sich nicht lange mit Brot und Spielen ablenken.” (Neiman 2015, 230)

Schließlich gilt, was Terézia Mora in ihren Frankfurter Poesievorlesungen thematisiert hat: “Man kann nicht alles an einem Ort finden.” (Mora 2015: 92) Das gilt für Bedeutungen ebenso, wie für Einsichten und Ideen …

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Bak, P. M. (2012). "Über das Wesen von Bedeutung." Philosophie der Psychologie.

Bly, R. (1996 [1996]). Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung erwachsen zu werden. München (GER), Kindler Verlag

Frankl, V. E. (1991 [1980]). Psychotherapy on Its Way to Rehumanization. In Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn. München (GER), Piper Verlag

Grierson, B. (2014). What If Age is Nothing but a Mind-Set? The New York Times Magazine, 22. Oktober 2014

Mader, J. (1992). Von Parmenides zu Hegel. Einführung in die Philosophie I. Wien (AUT), WUV-Universitätsverlag

Mora, T. (2014). Nicht sterben - Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München (GER), Luchterhand Literaturverlag

Nozick, R. (1991 [1989]). Vom richtigen, guten und glücklichen Leben. München (GER) & Wien (AUT), Carl Hanser Verlag

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