Freitag, 8. Mai 2015

Orientierung im Sterben – Über die Kraft des Abschiednehmens



Gross, P. (2015). Ich muss sterben - Im Leid die Liebe neu erfahren. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder.
Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt - www.herder.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Sterben, Tod, Trauer, Liebe, Lebensbewältigung

Orientierungspunkte
“Denn zu lieben ist kein Bedürfnis, sondern ein Quell der Freude.“ (Giacobbe 2008, 157)

Es mag seltsam anmuten, ein Buch über den Tod und das Sterben mit einem Zitat einzuleiten, das die Liebe als Quelle der Freude benennt, wie es der italienische Psychotherapeut Giacobbe in seinem Buch vermittelt. Es wird vielleicht noch seltsamer, wenn nicht nur von Liebe die Rede sein soll, sondern auch von Intimität, so wie es ein deutscher Paartherapeut vor kurzem beschrieben hat: “Intimität gedeiht dann, wenn es zwei Menschen gelingt, trotz der unvermeidlichen Probleme und Verletzungen des Lebens immer den Respekt füreinander zu bewahren, sich einander authentisch zu offenbaren und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um sich auf Augenhöhe zu begegnen.“ (Ruland 2015, 14) Und noch seltsamer wird es, wenn in diesem Zusammenhang auch die Behauptung aufgestellt wird, das alles wäre ja ganz einfach:

Es ist alles ganz einfach 

“Es ist alle ganz einfach viel
einfacher und trotzdem
auch so gibt es Augenblicke
in denen es mir zu viel wird
in denen ich nicht verstehe
und nicht weiß, ob ich laut lachen
oder vor Angst weinen soll
oder ohne Weinen
ohne Lachen
still dasein
mein Leben annehmen
meine Durchreise
meine Zeit“

(Idea Vilariño)
 
Doch diese drei Motive – Liebe, Intimität und die Leichtigkeit des Lebens – fügen sich schnell und sehr gut in die Überlegungen zu Sterben und Tod ein, vor allem, wenn der Anlass dazu ein persönliches Buch über den Tod der geliebten Ehefrau darstellt. 

Zum Autor
Peter Gross (Jg. 1941) ist ein schweizer Soziologe, der sich über die akademischen Grenzen hinaus in den Bereichen Soziologie und Nationalökonomie einen Namen gemacht hat. Als Ordinarius für Soziologie war er bis zu seiner Emeritierung 2006 an der Universität Sankt Gallen tätig. Den Begriff der „Multioptionsgesellschaft“ prägte er mit seinem gleichnamigen Buch, das 1994 erschienen ist. Zuletzt widmete er sich vor allem Fragen zum Alter. 

Wegmarken (Aufbau des Buches)
Das Buch eröffnet ein Zitat aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach (BWV 244) und gibt damit auch den Duktus vor, in dem das Buch gehalten ist: „Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen so übel zugerichtet.“ (Gross 2015, 5)
Die neun folgenden Kapitel sind jeweils mit Begriffen überschrieben, die für den Autor Reflexionsmöglichkeiten und besondere Erinnerungen darstellen. Das erste Kapitel, mit dem Wort „Zähne“ betitelt, bildet als Metapher die Grundlage für die Auseinandersetzung des Autors mit dem Sterben seiner Frau und dem Umgang mit seinen persönlichen Verlusterfahrungen. Die Welt zeige Zähne und diese schlage sie dem Menschen in den Körper, woraus seinen Wunden entstünden. Sichtbare Zeichen der Verletzlichkeit des Menschen. 

Fazit
Das Sterben anderer ist eine große Herausforderung – ebenso, das Nachdenken darüber, was man selbst durch diesen Verlust an Sicherheit und Gewohnheit verliert. Die Erinnerungen sind Anlass für Schmerz und Trauer – „Jede Vergegenwärtigung Deines Namens stürzt mich ins Leid.“ (Gross 2015, 121). In diesem Schmerz zeigen sich auch narzisstische Tendenzen – „Aber ich bleibe dabei: Ich will über Dich schreiben während Du mir todwund zuschaust. Denn was ich zu erinnern versuche, ist für Dich meine Allerliebste – die Du das nicht mehr lesen und kommentieren kannst.“ (Gross 2015, 21). Es zeigen sich Insuffizienzgefühle – „Der Mensch ist nicht, was er ist, und auch nicht, was er sein möchte. Er ist … ein Mängelwesen, unvollständig.“ (Gross 2015, 25), fatale Gedanken – „Alle müssen sterben. Wir kommen schon als Todgeweihte auf die Welt. Die Welt beißt zu. Mit scharfen Zähnen. Deshalb die Blessuren. Das verbindet uns Menschen. Der Tod …” (Gross 2015, 134) und schließlich auch Selbsterkenntnis – “Es mag Selbstmitleid dabei sein …” (Gross 2015, 63).

Peter Gross legt mit seinem Buch ein sehr offenes Buch vor und ruft man sich die eingangs erwähnte Definition von Intimität in Gedächtnis, dann fällt es leicht, diese Reflexionen und Gedanken als eine Form der Intimität zu verstehen. Auf respektvolle Weise eröffnet er den Beziehungsraum der Liebesgemeinschaft zu seiner Frau und teilt sein Leid und seine Verzweiflung. Worte, mit denen er seine Frau bedacht hat, werden uns vorgelegt und auch sein persönlicher Umgang mit dieser Situation legt er offen. Mit dem französischen Philosophen Rancière könnte man sagen „Alles ist in allem“ - „Das soll heißen Alles ist in allem: die Tautologie der Fähigkeit. Die ganze Macht der Sprache ist im Ganzen eines Buches.“ (Rancière 2007, 38) Wenn ein Mensch über Sterben und Tod nachdenkt, dann steckt darin die Chance, den eigenen Gedanken eine bestimmte Richtung zu geben. „Der Tod hat unsere Aufmerksamkeit – und die Sprache, die wir für diesen Tod finden, die Sprache, die uns die Toten zurück gelassen haben, ermöglichen uns ein besseres Verständnis unseres Lebens und Sterbens.“ (Kratochvila 2011, 6)

Aktuelle psychologische Forschungen zeigen, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine wesentliche Quelle für Bedeutung sein kann, die wir daraus ziehen können: “However, as the present research indicates, the past can also be a vital resource on which one might draw to maintain and enhance a sense of meaning.” (Routledge et al. 2011, 650) Damit wird aber auch die Chance eröffnet, das eigene Wohlbefinden genauer zu betrachten. Aus der Erfahrung des gegenwärtigen Leids lässt sich auch eine Transformation glücken: die Wandlung des Gegenwärtigen in das Erzählte (vgl. dazu die Überlegungen von Stoyles 2011, 5ff. zu den Begriffen momentary and narrative well-being)

Peter Gross führt uns mit seinem Buch zu diesen und anderen Überlegungen – zeigt sich von einer menschlichen Offenheit, wie wir es ansonsten vielleicht nur von nahen Freunden kennen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob man dabei die christlich-religiösen Vorstellungen teilt, die ihm so viel Halt und Kraft zu geben scheinen. Wir sind es, die diesen Erzählungen Bedeutung geben und mit jeder weiteren Bedeutung, die wir für uns finden, gewinnen wir Selbstbestimmung und das Wissen, um die Vergänglichkeit, ohne darin ausschließlich Schlechtes zu finden. (vgl. Levit 2014)

„Ich weiß nun, was sterben heißt. Ich kenne den Tod … Welten gehen. Sehnsucht bleibt.“ (Gross 2015, 152, 153) ... mein Leben annehmen ...

Harald G. Kratochvila, Wien 

Verwendete Literatur:

Giacobbe, G. C. (2008 [2007]). Wie Sie sich glücklich verheiraten und es ein Leben lang bleiben. München (GER), Goldmann-Arkana

Kratochvila, H. G. (2011). "Das Wissen vom Sterben und Tod des Menschen." Socialnet - Rezensionen: 1-6

Levit, L. Z. (2014). "Personal uniqueness therapy: Living with an inner ideal." American Journal of Applied Psychology 3(1): 1-7

Rancière, J. (2007 [1987]). Der unwissende Lehrmeister - Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien (AUT), Passagen Verlag

Routledge, C., et al. (2011). "The Past Makes the Present Meaningful: Nostalgia as an Existential Resource." Journal of Personality and Social Psychology 101(3): 638-652

Ruland, T. (2015). Die Psychologie der Intimität - Was Liebe und Sexualität miteinander zu tun haben. Stuttgart (GER), Klett-Cotta

Stoyles, B. J. (2011). "Challenging the Epicureans: Death and Two Kinds of Well-Being." The Philosophical Forum 42(1): 1-19

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