Gross,
P. (2015). Ich muss sterben - Im Leid die Liebe neu erfahren. Freiburg/Breisgau
(GER), Verlag Herder.
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt - www.herder.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Sterben, Tod, Trauer, Liebe, Lebensbewältigung
Stichworte: Sterben, Tod, Trauer, Liebe, Lebensbewältigung
Orientierungspunkte
“Denn zu lieben ist kein Bedürfnis, sondern ein Quell
der Freude.“ (Giacobbe 2008, 157)
Es mag seltsam anmuten, ein Buch über den Tod und das
Sterben mit einem Zitat einzuleiten, das die Liebe als Quelle der Freude
benennt, wie es der italienische Psychotherapeut Giacobbe in seinem Buch
vermittelt. Es wird vielleicht noch seltsamer, wenn nicht nur von Liebe die
Rede sein soll, sondern auch von Intimität, so wie es ein deutscher
Paartherapeut vor kurzem beschrieben hat: “Intimität gedeiht dann, wenn es zwei
Menschen gelingt, trotz der unvermeidlichen Probleme und Verletzungen des
Lebens immer den Respekt füreinander zu bewahren, sich einander authentisch zu
offenbaren und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um sich auf Augenhöhe
zu begegnen.“ (Ruland 2015, 14) Und
noch seltsamer wird es, wenn in diesem Zusammenhang auch die Behauptung aufgestellt
wird, das alles wäre ja ganz einfach:
Es ist alles ganz einfach
“Es ist alle ganz einfach viel
einfacher und trotzdem
auch so gibt es Augenblicke
in denen es mir zu viel wird
in denen ich nicht verstehe
und nicht weiß, ob ich laut lachen
oder vor Angst weinen soll
oder ohne Weinen
ohne Lachen
still dasein
mein Leben annehmen
meine Durchreise
meine Zeit“
(Idea Vilariño)
Doch diese drei Motive – Liebe, Intimität und die
Leichtigkeit des Lebens – fügen sich schnell und sehr gut in die Überlegungen zu
Sterben und Tod ein, vor allem, wenn der Anlass dazu ein persönliches Buch über
den Tod der geliebten Ehefrau darstellt.
Zum
Autor
Peter Gross (Jg. 1941) ist ein schweizer Soziologe, der
sich über die akademischen Grenzen hinaus in den Bereichen Soziologie und Nationalökonomie
einen Namen gemacht hat. Als Ordinarius für Soziologie war er bis zu seiner
Emeritierung 2006 an der Universität Sankt Gallen tätig. Den Begriff der
„Multioptionsgesellschaft“ prägte er mit seinem gleichnamigen Buch, das 1994
erschienen ist. Zuletzt widmete er sich vor allem Fragen zum Alter.
Wegmarken
(Aufbau des Buches)
Das Buch eröffnet ein Zitat aus der Matthäus-Passion von
Johann Sebastian Bach (BWV 244) und gibt damit auch den Duktus vor, in dem das
Buch gehalten ist: „Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen
so übel zugerichtet.“ (Gross 2015, 5)
Die neun folgenden Kapitel sind jeweils mit Begriffen
überschrieben, die für den Autor Reflexionsmöglichkeiten und besondere
Erinnerungen darstellen. Das erste Kapitel, mit dem Wort „Zähne“ betitelt,
bildet als Metapher die Grundlage für die Auseinandersetzung des Autors mit dem
Sterben seiner Frau und dem Umgang mit seinen persönlichen Verlusterfahrungen.
Die Welt zeige Zähne und diese schlage sie dem Menschen in den Körper, woraus
seinen Wunden entstünden. Sichtbare Zeichen der Verletzlichkeit des Menschen.
Fazit
Das
Sterben anderer ist eine große Herausforderung – ebenso, das Nachdenken
darüber, was man selbst durch diesen Verlust an Sicherheit und Gewohnheit verliert.
Die Erinnerungen sind Anlass für Schmerz und Trauer – „Jede Vergegenwärtigung
Deines Namens stürzt mich ins Leid.“ (Gross
2015, 121). In diesem Schmerz zeigen sich auch narzisstische Tendenzen – „Aber
ich bleibe dabei: Ich will über Dich schreiben während Du mir todwund
zuschaust. Denn was ich zu erinnern versuche, ist für Dich meine Allerliebste –
die Du das nicht mehr lesen und kommentieren kannst.“ (Gross 2015, 21). Es zeigen sich Insuffizienzgefühle – „Der Mensch
ist nicht, was er ist, und auch nicht, was er sein möchte. Er ist … ein
Mängelwesen, unvollständig.“ (Gross
2015, 25), fatale Gedanken – „Alle müssen sterben. Wir kommen schon als
Todgeweihte auf die Welt. Die Welt beißt zu. Mit scharfen
Zähnen. Deshalb die Blessuren. Das verbindet uns Menschen. Der Tod …” (Gross 2015, 134) und schließlich auch
Selbsterkenntnis – “Es mag Selbstmitleid dabei sein …” (Gross 2015, 63).
Peter
Gross legt mit seinem Buch ein sehr offenes Buch vor und ruft man sich die
eingangs erwähnte Definition von Intimität in Gedächtnis, dann fällt es leicht,
diese Reflexionen und Gedanken als eine Form der Intimität zu verstehen. Auf
respektvolle Weise eröffnet er den Beziehungsraum der Liebesgemeinschaft zu
seiner Frau und teilt sein Leid und seine Verzweiflung. Worte, mit denen er
seine Frau bedacht hat, werden uns vorgelegt und auch sein persönlicher Umgang
mit dieser Situation legt er offen. Mit dem französischen Philosophen Rancière
könnte man sagen „Alles ist in allem“ - „Das soll heißen Alles ist in allem:
die Tautologie der Fähigkeit. Die ganze Macht der Sprache ist im Ganzen eines
Buches.“ (Rancière 2007, 38) Wenn ein Mensch über Sterben und Tod nachdenkt,
dann steckt darin die Chance, den eigenen Gedanken eine bestimmte Richtung zu
geben. „Der Tod hat unsere Aufmerksamkeit – und die Sprache, die wir für diesen
Tod finden, die Sprache, die uns die Toten zurück gelassen haben, ermöglichen
uns ein besseres Verständnis unseres Lebens und Sterbens.“ (Kratochvila 2011, 6)
Aktuelle
psychologische Forschungen zeigen, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit
eine wesentliche Quelle für Bedeutung sein kann, die wir daraus ziehen können: “However,
as the present research indicates, the past can also be a vital resource on
which one might draw to maintain and enhance a sense of meaning.” (Routledge et al. 2011, 650) Damit wird
aber auch die Chance eröffnet, das eigene Wohlbefinden genauer zu betrachten.
Aus der Erfahrung des gegenwärtigen Leids lässt sich auch eine Transformation
glücken: die Wandlung des Gegenwärtigen in das Erzählte (vgl. dazu die
Überlegungen von Stoyles 2011, 5ff.
zu den Begriffen momentary and narrative well-being)
Peter
Gross führt uns mit seinem Buch zu diesen und anderen Überlegungen – zeigt sich
von einer menschlichen Offenheit, wie wir es ansonsten vielleicht nur von nahen
Freunden kennen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob man dabei die
christlich-religiösen Vorstellungen teilt, die ihm so viel Halt und Kraft zu
geben scheinen. Wir sind es, die diesen Erzählungen Bedeutung geben und mit
jeder weiteren Bedeutung, die wir für uns finden, gewinnen wir Selbstbestimmung
und das Wissen, um die Vergänglichkeit, ohne darin ausschließlich Schlechtes zu
finden. (vgl. Levit 2014)
„Ich
weiß nun, was sterben heißt. Ich kenne den Tod … Welten gehen. Sehnsucht
bleibt.“ (Gross 2015, 152, 153) ... mein Leben annehmen ...
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Giacobbe, G. C. (2008 [2007]). Wie Sie sich glücklich
verheiraten und es ein Leben lang bleiben. München (GER), Goldmann-Arkana
Kratochvila, H. G. (2011). "Das Wissen vom
Sterben und Tod des Menschen." Socialnet - Rezensionen: 1-6
Levit, L. Z. (2014). "Personal uniqueness therapy:
Living with an inner ideal." American Journal of Applied Psychology 3(1):
1-7
Rancière, J. (2007
[1987]). Der unwissende Lehrmeister - Fünf Lektionen über die intellektuelle
Emanzipation. Wien (AUT), Passagen Verlag
Routledge, C., et al. (2011). "The Past Makes the Present
Meaningful: Nostalgia as an Existential Resource." Journal of Personality
and Social Psychology 101(3): 638-652
Ruland, T. (2015).
Die Psychologie der Intimität - Was Liebe und Sexualität miteinander zu tun
haben. Stuttgart (GER), Klett-Cotta
Stoyles, B. J. (2011). "Challenging the Epicureans: Death and Two
Kinds of Well-Being." The Philosophical Forum 42(1): 1-19
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