Was Körpererinnerungen und Berührungserfahrungen mit uns machen
Cem
Ekmekcioglu (2015) Drück mich mal. Warum Berührungen so wichtig für uns sind.
Frankfurt/Main (GER), Westend Verlag
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt: www.westendverlag.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Berührung, Emotion, Depression, Einsamkeit, Lebenskompetenz,
Rezension
Der vernachlässigte 5. Sinn: Der Tastsinn – Berührungen und Körperlichkeiten
Hinter dieser Idee steht ein Mann, eine Erfahrung und
viel Engagement. Juan Mann – Ein Interview mit ihm findet sich hier: www.philosophyblog.com.au/interview-with-juan-mann-free-hugs-campaign.
Die
offizielle Seite dazu: www.freehugscampaign.org
In aufrichtigen Berührungen
fallen Distanzen zusammen, werden Unterschiede nivelliert und Menschen begegnen
einander auf Augenhöhe. Berührungen betonen die eigene Verletzlichkeit genauso,
wie die individuelle Macht, die man in sie hineinlegen kann. Das ist wichtig, denn
es hat sich herausgestellt, „ … dass es die Kleinigkeiten sind, die das
menschliche Leben ausmachen.“ (zitiert nach Karl L. Holtz in Short/Weinsprach 2010, 39) „Drück mich mal“ – schenke mir Deine
Nähe …
Zum Autor
Cem
Ekmekcioglu ist Physiologe und lehrt und forscht am Zentrum für Public Health
an der Medizinischen Universität Wien - http://zph.meduniwien.ac.at.
Er befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen zur Ernährung und zur gesunden
Lebensweise. Sein Wissen teilt er in Büchern, wissenschaftlichen Arbeiten und Vorträgen
– und auch auf seiner homepage: www.ekmekcioglu.at. Seine
vielfältigen Interessen finden sich darauf ebenso dokumentiert, wie seine
Bemühungen Menschen zu einem gesünderen Lebensstil zu verhelfen.
Hau(p)tsache Berührung –Zum Inhalt des Buches
In fünf Kapiteln plädiert Cem Ekmekcioglu für einen
bewussten Umgang mit Berührungen und der Mächtigkeit, die in ihnen steckt. Sein
Ausgangsbefund: In unserer Gesellschaft herrscht Berührungsarmut bzw.
Berührungslosigkeit – viele Menschen würden ihren technischen Geräten mehr
Berührungen zukommen lassen, als den Menschen in ihrer Nähe (Stichwort:
Touchscreens). Seine Grundüberzeugung lautet – „Berührung ist Leben“ und dementsprechend
lautet auch die erste Kapitelüberschrift. In ihm legt er dar, welche
Unterschiede es zwischen den fünf Sinnen gibt und zeigt, dass der
Berührungssinn ein Sinn der Nähe ist (vgl. Ekmekcioglu
2015, 24). Der Berührungssinn (Tastsinn) ist ein reziproker Sinn, ein Sinn, der
nur in beide Richtungen funktioniert – wer berührt, wird berührt: „Von unseren
fünf Sinnen ist der Tastsinn außerdem der einzige, der ausnahmslos in beide
Richtungen funktioniert.“ (ebd.) Dieser Bedeutung, die Berührungen für uns
haben, genauer auf die Spur zu kommen ist Aufgabe des zweiten Kapitels. Es
beschreibt Berührungsformen und führt auch den Begriff der Körpererinnerung
ein. Es wird näher beschrieben, inwieweit „Berührung beruhigt“ (Ekmekcioglu 2015, 42) und welche
Auswirkungen Berührungen auf Menschen haben können. „Berührungen sind extrem
mächtig“ (Ekmekcioglu 2015, 55/56) –
sie nehmen Einfluss auf unsere Stimmungen, Emotionen, Erinnerungen, sie tragen
dazu bei, dass unser leid gelindert wird, sie sprechen das Unbewusste an und
sind eine sehr direkt wirkende Unterstützung unserer Kommunikation. In diesem
Kapitel kommen auch Phänomene zur Sprache, die vom Autor „der manipulative
Touch“ genannt werden. Das dritte Kapitel greift den Ausgangsbefund wieder auf
und vertieft das Thema der Berührungslosigkeit. In ihm spricht er von positiven
und negativen Berührungserfahrungen und den Einfluss, den unsere frühen
Berührungserfahrungen für unser weiteres Leben haben können. „Liebevolle
Berührungen sind die Süße unserer Existenz: Aufgezwungene Berührungen bittere
Lebertran in unserem Leben.“ (Ekmekcioglu
2015, 82) Die Mächtigkeit der Berührungen rührt an unserem Selbstbild und an
unserer Identitätserfahrung. Berührungserfahrungen sind eng mit
Körpererinnerungen verbunden und lösen demnach auch solche Erinnerungen wieder
aus. Allgemeiner lenkt er unseren Blick auf sogenannte „high-touch und low-touch“
Kulturen und bringt damit die gesellschaftliche Perspektive in den Blick. Das
nächste Kapitel liefert Anhaltspunkte für die These, dass Berührungsmangel
tatsächlich krank macht. Cem Ekmekcioglu spricht hier auch von Einsamkeit und
setzt Berührungsarmut und Einsamkeit in einen Zusammenhang: „Ein Mensch ist vor
allem dann einsam, wenn seine Wünsche nach sozialen und körperlichen Kontakten
nicht befriedigt werden. Mit der Einsamkeit kommen die emotionalen Probleme,
von der Melancholie bis zu psychischen Erkrankungen.“ (Ekmekcioglu 2015, 23) Das abschließende Kapitel widmet sich dann
ausführliche dem Geben und Nehmen von Berührungen. Es erwähnt die in der
Einleitung vorgestellte Hugs-for-free Kampagne, es beschreibt Selbsterfahrungseminare
zur Körperlichkeit, es lässt den Blick über Phänomen der Alltagskultur
schweifen – Wie führen Menschen Beziehungen und welchen Stellenwert räumen sie
dabei der Körperlichkeit ein? Was können Tiere als Therapeuten bewirken? Wie
viel „drücken“ ist genug? – und bildet einen schönen Ausklang des Buches. Es
betont aber auch: „Lieber keine Berührungen als falsche Berührungen.“ (Ekmekcioglu 2015, 178) Durch die
ausführliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Berührungserfahrungen, Körpererinnerungen
und der Macht von Berührungen ist sehr klar geworden, dass aufgezwungene
Berührungen eine tiefe Verletzung der persönlichen Integrität und Identität
bedeuten.
Fazit
„Hätte
ich nicht Momente von unbegründetem Optimismus in meinem Leben, ich könnte
nicht weiterleben.“ (Reza 2002, 43)
Umgelegt auf den Zusammenhang von Berührungen und Nähe, wie er in dem Buch von
Cem Ekmekcioglu aufgebracht wird, könnte man sagen, dass Intimität und das
Sich-Aufeinander-Einlassen wesentliche Komponenten eines gesunden Lebens sind –
angenehme zärtliche Berührungen machen einen Gutteil des Optimismus aus, den
wir Menschen so sehr brauchen um mit den Schwierigkeiten im Leben genauso klar
zu kommen, wie mit dem Guten, das uns widerfährt. „Denken Sie einfach daran:
Angenehme zärtliche Berührungen kosten nichts, bedürfen keines großen
Kraftaufwands, sind an keinen Ort und keine Zeit gebunden und haben keine
negativen Nebenwirkungen – ganz im Gegenteil.“ (Ekmekcioglu 2015, 182)
Cem
Ekmekcioglu legt in seinem Buch sehr anschaulich dar, welche positiven Effekte
Berührungen für uns haben, er macht sehr deutliche, was positive und negative
Berührungserfahrungen für Bedeutungen für unser Wohlbefinden und vor allem für
unser Selbstbild haben.
Dennoch
kommen in seinem Buch auch ein paar Dinge zu kurz:
- Gerade das Verhältnis von Intimität und körperlichen Berührungen wird nicht ausreichend expliziert. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass es sich bei dem Buch um kein psychologisches Buch handelt. So fehlen in manchen Beispielen, die der Autor beschreibt, die Querverbindungen zur psychologischen bzw. sozialpsychologischen Forschung zu kurz. Gerade in den Passagen, in denen die körperlichen Auswirkungen von Berührungen besprochen werden, bietet sich die Diskussion von Lernformen (emotionale Konditionierung) oder Assoziationsphänomenen (Priming und Priming-Effekten) an. Zum anderen fehlt eine genaue Bestimmung von Begriffen wie Nähe oder eben Intimität. Diese Bestimmungen würden bei der Klärung helfen, was es braucht, um Berührungen zu geben und auch zulassen zu können. Das ausführliche 5. Kapitel („Berührungen bekommen und genießen“) bleibt in dieser Hinsicht leider zu vage. (Empfehlenswert ist daher die Vertiefung des Intimitätsbegriffs bei Ruland 2015)
- Leider hat der Autor auf eine Anführung von Quellenverweisen im laufenden Text verzichtet – „aus Gründen der besseren Lesbarkeit“. Ich teile diese Ansicht nicht. Fußnoten sind eine sehr effiziente Art und Weise Ideen und Quellen transparent zu machen. Die vom Autor bevorzugte Methode ist nicht praktikabel, noch dazu, wo sich die Endnoten nach dem Literaturverzeichnis befinden. Darüber hinaus, werden die Autoren in den Endnoten alphabetisch angeführt, nicht der Reihe ihres Vorkommens nach – ob sich eine Quellenangabe überhaupt in den Endnoten findet, ist im Fließtext auch nicht ersichtlich.
Dennoch:
Cem Ekmekcioglu ist im wahrsten Sinne des Wortes sehr berührendes Buch
gelungen. Die gedankliche Spange – beginnend mit „Alle Menschen brauchen
angenehme Berührungen“ bis hin zum Schlusssatz, der uns dazu auffordert
Berührungen zu schenken (Ekmekcioglu 2015, 9 und 182 – das Zitat befindet sich
ebenfalls im Fazit – überzeugt. Das Buch ist ein Plädoyer für Nähe und was es
braucht, diese Nähe auch zu zeigen. „Berührungen sind die Essenz des Lebens.“
(Ekmekcioglu 2015, 107) – und wo sie geteilt werden, herrscht Lebendigkeit,
Vertrauen wächst und Distanzen werden überwunden. Das Buch lässt sich als
Metapher dafür lesen, dass Berührungen Anderssein begreifbar werden lassen und
dass wir dabei auch uns besser begreifen lernen. Unsere Körpererinnerungen und
unsere Berührungserfahrungen konstituieren auch unsere Identität und wenn wir
ein wenig mehr darauf achten, wie wir mit Berührungen umgehen, dann lernen wir
auch ein wenig mehr darüber, was wir brauchen und was wir uns vielleicht
vorenthalten. Und wir das besser verstehen, dann kann es leicht möglich sein,
dass wir lernen, was wir anderen mit unseren angenehmen, zärtlichen Berührungen
an Freude und Anerkennung schenken könnten. Cem Ekmekcioglu hat mit seinem Buch
einen sehr schönen Anstoß gegeben, sich der Macht der Berührungen bewusst zu
machen und für seine Mitmenschen öfter offene Arme zu haben.
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Reza, Y. (2002 [1997]). Hammerklavier - Eine Sonate. München
(GER), List Taschenbuch
Ruland, T. (2015). Die Psychologie der Intimität - Was
Liebe und Sexualität miteinander zu tun haben. Stuttgart (GER), Klett-Cotta
Short, D. und C. Weinsprach (2010 [2007]). Hoffnung
und Resilienz - Therapeutische Strategien von Milton H. Erickson. Heidelberg
(GER), Carl-Auer Verlag
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