Sonntag, 12. Juli 2015

Rezension: Cem Ekmekcioglu – Drück mich mal

Was Körpererinnerungen und Berührungserfahrungen mit uns machen

Cem Ekmekcioglu (2015) Drück mich mal. Warum Berührungen so wichtig für uns sind. Frankfurt/Main (GER), Westend Verlag

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt: www.westendverlag.de

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Berührung, Emotion, Depression, Einsamkeit, Lebenskompetenz, Rezension 

Der vernachlässigte 5. Sinn: Der Tastsinn – Berührungen und Körperlichkeiten

Harald G. Kratochvila - Rezension: Cem Ekmekcioglu - Drück mich malBis vor einiger Zeit hätte ich nicht gewusst, was ich von Männern und Frauen halten soll, die sich auf öffentlichen Plätzen hinstellen und Passanten mit ihren Schildern zu verstehen geben, dass es bei ihnen Gratis-Umarmungen, sogenannte free hugs, abzuholen gäbe. Ich hätte mich wahrscheinlich darüber gewundert, was es wohl mit diesem Angebot zum Körperkontakt auf sich hat – eine Flirtidee, eine besonders dreiste Form des angekündigten Taschendiebstahls? 

Hinter dieser Idee steht ein Mann, eine Erfahrung und viel Engagement. Juan Mann – Ein Interview mit ihm findet sich hier: www.philosophyblog.com.au/interview-with-juan-mann-free-hugs-campaign
Die offizielle Seite dazu: www.freehugscampaign.org

In aufrichtigen Berührungen fallen Distanzen zusammen, werden Unterschiede nivelliert und Menschen begegnen einander auf Augenhöhe. Berührungen betonen die eigene Verletzlichkeit genauso, wie die individuelle Macht, die man in sie hineinlegen kann. Das ist wichtig, denn es hat sich herausgestellt, „ … dass es die Kleinigkeiten sind, die das menschliche Leben ausmachen.“ (zitiert nach Karl L. Holtz in Short/Weinsprach 2010, 39) „Drück mich mal“ – schenke mir Deine Nähe … 

Zum Autor

Cem Ekmekcioglu ist Physiologe und lehrt und forscht am Zentrum für Public Health an der Medizinischen Universität Wien - http://zph.meduniwien.ac.at. Er befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen zur Ernährung und zur gesunden Lebensweise. Sein Wissen teilt er in Büchern, wissenschaftlichen Arbeiten und Vorträgen – und auch auf seiner homepage: www.ekmekcioglu.at. Seine vielfältigen Interessen finden sich darauf ebenso dokumentiert, wie seine Bemühungen Menschen zu einem gesünderen Lebensstil zu verhelfen. 

Hau(p)tsache Berührung –Zum Inhalt des Buches

In fünf Kapiteln plädiert Cem Ekmekcioglu für einen bewussten Umgang mit Berührungen und der Mächtigkeit, die in ihnen steckt. Sein Ausgangsbefund: In unserer Gesellschaft herrscht Berührungsarmut bzw. Berührungslosigkeit – viele Menschen würden ihren technischen Geräten mehr Berührungen zukommen lassen, als den Menschen in ihrer Nähe (Stichwort: Touchscreens). Seine Grundüberzeugung lautet – „Berührung ist Leben“ und dementsprechend lautet auch die erste Kapitelüberschrift. In ihm legt er dar, welche Unterschiede es zwischen den fünf Sinnen gibt und zeigt, dass der Berührungssinn ein Sinn der Nähe ist (vgl. Ekmekcioglu 2015, 24). Der Berührungssinn (Tastsinn) ist ein reziproker Sinn, ein Sinn, der nur in beide Richtungen funktioniert – wer berührt, wird berührt: „Von unseren fünf Sinnen ist der Tastsinn außerdem der einzige, der ausnahmslos in beide Richtungen funktioniert.“ (ebd.) Dieser Bedeutung, die Berührungen für uns haben, genauer auf die Spur zu kommen ist Aufgabe des zweiten Kapitels. Es beschreibt Berührungsformen und führt auch den Begriff der Körpererinnerung ein. Es wird näher beschrieben, inwieweit „Berührung beruhigt“ (Ekmekcioglu 2015, 42) und welche Auswirkungen Berührungen auf Menschen haben können. „Berührungen sind extrem mächtig“ (Ekmekcioglu 2015, 55/56) – sie nehmen Einfluss auf unsere Stimmungen, Emotionen, Erinnerungen, sie tragen dazu bei, dass unser leid gelindert wird, sie sprechen das Unbewusste an und sind eine sehr direkt wirkende Unterstützung unserer Kommunikation. In diesem Kapitel kommen auch Phänomene zur Sprache, die vom Autor „der manipulative Touch“ genannt werden. Das dritte Kapitel greift den Ausgangsbefund wieder auf und vertieft das Thema der Berührungslosigkeit. In ihm spricht er von positiven und negativen Berührungserfahrungen und den Einfluss, den unsere frühen Berührungserfahrungen für unser weiteres Leben haben können. „Liebevolle Berührungen sind die Süße unserer Existenz: Aufgezwungene Berührungen bittere Lebertran in unserem Leben.“ (Ekmekcioglu 2015, 82) Die Mächtigkeit der Berührungen rührt an unserem Selbstbild und an unserer Identitätserfahrung. Berührungserfahrungen sind eng mit Körpererinnerungen verbunden und lösen demnach auch solche Erinnerungen wieder aus. Allgemeiner lenkt er unseren Blick auf sogenannte „high-touch und low-touch“ Kulturen und bringt damit die gesellschaftliche Perspektive in den Blick. Das nächste Kapitel liefert Anhaltspunkte für die These, dass Berührungsmangel tatsächlich krank macht. Cem Ekmekcioglu spricht hier auch von Einsamkeit und setzt Berührungsarmut und Einsamkeit in einen Zusammenhang: „Ein Mensch ist vor allem dann einsam, wenn seine Wünsche nach sozialen und körperlichen Kontakten nicht befriedigt werden. Mit der Einsamkeit kommen die emotionalen Probleme, von der Melancholie bis zu psychischen Erkrankungen.“ (Ekmekcioglu 2015, 23) Das abschließende Kapitel widmet sich dann ausführliche dem Geben und Nehmen von Berührungen. Es erwähnt die in der Einleitung vorgestellte Hugs-for-free Kampagne, es beschreibt Selbsterfahrungseminare zur Körperlichkeit, es lässt den Blick über Phänomen der Alltagskultur schweifen – Wie führen Menschen Beziehungen und welchen Stellenwert räumen sie dabei der Körperlichkeit ein? Was können Tiere als Therapeuten bewirken? Wie viel „drücken“ ist genug? – und bildet einen schönen Ausklang des Buches. Es betont aber auch: „Lieber keine Berührungen als falsche Berührungen.“ (Ekmekcioglu 2015, 178) Durch die ausführliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Berührungserfahrungen, Körpererinnerungen und der Macht von Berührungen ist sehr klar geworden, dass aufgezwungene Berührungen eine tiefe Verletzung der persönlichen Integrität und Identität bedeuten. 

Fazit

„Hätte ich nicht Momente von unbegründetem Optimismus in meinem Leben, ich könnte nicht weiterleben.“ (Reza 2002, 43) Umgelegt auf den Zusammenhang von Berührungen und Nähe, wie er in dem Buch von Cem Ekmekcioglu aufgebracht wird, könnte man sagen, dass Intimität und das Sich-Aufeinander-Einlassen wesentliche Komponenten eines gesunden Lebens sind – angenehme zärtliche Berührungen machen einen Gutteil des Optimismus aus, den wir Menschen so sehr brauchen um mit den Schwierigkeiten im Leben genauso klar zu kommen, wie mit dem Guten, das uns widerfährt. „Denken Sie einfach daran: Angenehme zärtliche Berührungen kosten nichts, bedürfen keines großen Kraftaufwands, sind an keinen Ort und keine Zeit gebunden und haben keine negativen Nebenwirkungen – ganz im Gegenteil.“ (Ekmekcioglu 2015, 182)

Cem Ekmekcioglu legt in seinem Buch sehr anschaulich dar, welche positiven Effekte Berührungen für uns haben, er macht sehr deutliche, was positive und negative Berührungserfahrungen für Bedeutungen für unser Wohlbefinden und vor allem für unser Selbstbild haben.

Dennoch kommen in seinem Buch auch ein paar Dinge zu kurz:
  • Gerade das Verhältnis von Intimität und körperlichen Berührungen wird nicht ausreichend expliziert. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass es sich bei dem Buch um kein psychologisches Buch handelt. So fehlen in manchen Beispielen, die der Autor beschreibt, die Querverbindungen zur psychologischen bzw. sozialpsychologischen Forschung zu kurz. Gerade in den Passagen, in denen die körperlichen Auswirkungen von Berührungen besprochen werden, bietet sich die Diskussion von Lernformen (emotionale Konditionierung) oder Assoziationsphänomenen (Priming und Priming-Effekten) an. Zum anderen fehlt eine genaue Bestimmung von Begriffen wie Nähe oder eben Intimität. Diese Bestimmungen würden bei der Klärung helfen, was es braucht, um Berührungen zu geben und auch zulassen zu können. Das ausführliche 5. Kapitel („Berührungen bekommen und genießen“) bleibt in dieser Hinsicht leider zu vage. (Empfehlenswert ist daher die Vertiefung des Intimitätsbegriffs bei Ruland 2015) 
  •  Leider hat der Autor auf eine Anführung von Quellenverweisen im laufenden Text verzichtet – „aus Gründen der besseren Lesbarkeit“. Ich teile diese Ansicht nicht. Fußnoten sind eine sehr effiziente Art und Weise Ideen und Quellen transparent zu machen. Die vom Autor bevorzugte Methode ist nicht praktikabel, noch dazu, wo sich die Endnoten nach dem Literaturverzeichnis befinden. Darüber hinaus, werden die Autoren in den Endnoten alphabetisch angeführt, nicht der Reihe ihres Vorkommens nach – ob sich eine Quellenangabe überhaupt in den Endnoten findet, ist im Fließtext auch nicht ersichtlich. 
Dennoch: Cem Ekmekcioglu ist im wahrsten Sinne des Wortes sehr berührendes Buch gelungen. Die gedankliche Spange – beginnend mit „Alle Menschen brauchen angenehme Berührungen“ bis hin zum Schlusssatz, der uns dazu auffordert Berührungen zu schenken (Ekmekcioglu 2015, 9 und 182 – das Zitat befindet sich ebenfalls im Fazit – überzeugt. Das Buch ist ein Plädoyer für Nähe und was es braucht, diese Nähe auch zu zeigen. „Berührungen sind die Essenz des Lebens.“ (Ekmekcioglu 2015, 107) – und wo sie geteilt werden, herrscht Lebendigkeit, Vertrauen wächst und Distanzen werden überwunden. Das Buch lässt sich als Metapher dafür lesen, dass Berührungen Anderssein begreifbar werden lassen und dass wir dabei auch uns besser begreifen lernen. Unsere Körpererinnerungen und unsere Berührungserfahrungen konstituieren auch unsere Identität und wenn wir ein wenig mehr darauf achten, wie wir mit Berührungen umgehen, dann lernen wir auch ein wenig mehr darüber, was wir brauchen und was wir uns vielleicht vorenthalten. Und wir das besser verstehen, dann kann es leicht möglich sein, dass wir lernen, was wir anderen mit unseren angenehmen, zärtlichen Berührungen an Freude und Anerkennung schenken könnten. Cem Ekmekcioglu hat mit seinem Buch einen sehr schönen Anstoß gegeben, sich der Macht der Berührungen bewusst zu machen und für seine Mitmenschen öfter offene Arme zu haben.

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Reza, Y. (2002 [1997]). Hammerklavier - Eine Sonate. München (GER), List Taschenbuch

Ruland, T. (2015). Die Psychologie der Intimität - Was Liebe und Sexualität miteinander zu tun haben. Stuttgart (GER), Klett-Cotta

Short, D. und C. Weinsprach (2010 [2007]). Hoffnung und Resilienz - Therapeutische Strategien von Milton H. Erickson. Heidelberg (GER), Carl-Auer Verlag

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