Montag, 15. Juni 2015

Über das Glück und darüber hinaus - Eine Rezension zum aktuellen Buch von Frédéric Lenoir "Über das Glück"



Lenoir, F. (2015 [2013]). Über das Glück - Eine philosophische Reise. München (GER), Deutscher Taschenbuch Verlag

Das Buch wurde freundlicherweise vom verlag zur Verfügung gestellt: www.dtv.de
Zur Verlagsseites des Buches: www.dtv.de/buecher/ueber_das_glueck_26074.html

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien) 

Stichworte: Glück, Zufriedenheit, Philosophie, Verlust, Lebenskompetenz, Rezension 

Auf der Suche nach dem Glück und der Weg der Philosophie



http://www.dtv.de/_cover/165/ueber_das_glueck-9783423260749.jpgWas, wenn das Leben von einem Moment auf den anderen seine bisherige Form verliert und man das Gefühl hat, die Bedeutung des bisherigen Lebensvollzuges zerrinnt zwischen den Fingern oder wird brüchig – eine solche Erfahrung wird im neuen Theaterstück von Peter Handke beschrieben: „Vor zwei Jahren ist mir von einem Moment zum anderen alles gleichgültig geworden, und damit begann die schrecklichste Zeit meines Lebens.“ (Handke 2015, 107)

Gleichgültigkeit und Glück scheinen definitiv nicht zueinander zu passen – und das Changieren zwischen diesen beiden Extremen ist mit endlosen Mühen verbunden - „Unser Weg baut sich aus Verlusten, die heimlich zu Gewinnen werden.“ (Martin Buber zitiert nach Bennent-Vahle 2011, 111) Daran schließen sich einige Fragen an: Ist das Glück etwas, das einem plötzlich zustoßen kann, ist es so etwas, wie eine Erkenntnis zu der man gelangen könnte? Oder ist es mehr, wie Schmerz, der präsent ist oder eben nicht – eine Kategorie des Bewusstseins? Eine erste Annäherung dazu lässt sich bei William Shakespeare finden. Er legt einem seiner Figuren den Satz in den Mund: “An sich ist kein Ding weder gut noch schlecht; das Denken macht es erst dazu.“ (zitiert nach Watzlawick et al. 1994, 119)
Das Glück ist also zunächst einmal eine Denkkategorie. Aber ist es eher ein Problem, oder doch die Lösung eines Problems? „In science, finding the right formulation of a problem is often the key to solving it …“ (Hawking 2013, 106) Es scheint viel von der Formulierung des Sachverhalts abzuhängen, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Beim Psychologen und Psychotherapeuten Paul Watzlawick findet sich eine wichtige Unterscheidung dazu – die Unterscheidung zwischen Schwierigkeiten und Problemen. Schwierigkeiten und Probleme umfassen zwei voneinander zu unterscheidende Möglichkeits- und damit Lösungsräume – bei Schwierigkeiten sind Lösungen systemimmanent möglich (sogenannte Wandlungen 1. Ordnung), bei Problemen sind Lösungen nur außerhalb des Systems möglich (Wandlungen 2. Ordnung) (vgl. Watzlawick et al. 1994, 58)

Ähnliche Begriffe mögen vielen vertraut sein: Problemtrance, Lösungstrance, Problemhorizont, Lösungshorizont – die systemische Psychotherapie verwendet diese Begriffe und Vorstellungen, um darauf aufmerksam zu machen, dass es oftmals der eigene Denkrahmen ist, der Probleme und Lösungen vorgibt – in der Lösungsfokussierten Kurzzeittherapie wird aber ein gewisser Unterschied zwischen Problem und Lösung gesehen: „Die Lösung hängt nicht zwangsläufig mit dem Problem direkt zusammen.“ (de Shazer/Dolan 2011, 23)
Die Reise zum Glück scheint eine philosophische zu werden … 

Zum Autor – Frédéric Lenoir

Frédéric Lenoir ist ein sehr breit interessierter Mann – der eigenen Beschreibung von ihm folgend ist er Philosoph, Soziologe, Religionshistoriker, Forschungsmitarbeiter an einer renommierten französischen Hochschule, dem EHESS - l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales - http://www.ehess.fr (auch diese Seite ist zum Teil auf Englisch verfügbar). Er gestaltet eine wöchentliche Radiosendung, schreibt Essays, Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Comics und vieles mehr. Auf seinem Internetauftritt: www.fredericlenoir.com finden sich eine Fülle an Informationen zu seiner Person und seinen vielfältigen Tätigkeiten – die französische Hauptseite ist sehr umfangreich, die englischsprachigen Beiträge dagegen sehr kursorisch.
Ein in Französisch geführtes Interview findet sich hier( leider finden sich keine Videos in Deutsch oder Englisch): http://www.dailymotion.com/video/x16knv9_frederic-lenoir-le-bonheur-c-est-aimer-la-vie_news 

Das Glück im Kaleidoskop (Aufbau des Buches)

Das Leben und insbesondere das Glück sind vielfältig und vielfarbig – viele Aspekte sind dabei zu berücksichtigen, will man sich ihnen nähern, und sie schlussendlich in den Griff zu bekommen. Diesen Zugang hat auch Frédéric Lenoir in seinem aktuellen Buch über das Glück gewählt, „[d]enn Glück hängt von vielerlei Faktoren ab, die gar nicht so leicht auseinanderzuklamüsern sind.“ (Lenoir 2015, 8) In 21 Kapiteln, die manchmal nur wenige Seiten umfassen, lenkt der Autor unseren Blick auf die unterschiedlichen Facetten des Glücks. Jedes Kapitel wird mit einem Zitat begonnen, das auf den Kapitelinhalt einstimmen soll. Bereits in der Überschrift des ersten Kapitels findet sich die Essenz des Buches formuliert – „Das Leben lieben, das man führt“. Als literarische Unterstützung findet sich ein Zitat von Jean Giono: „Es gibt kein Menschenleben, wie bescheiden oder elend es auch sein möge, das nicht tagtäglich die Möglichkeit zum Glück hätte: Um letzteres zu erreichen, brauchen wir nur eines: uns selbst.“ (Lenoir 2015, 18) Manche wird das auch an den wunderbaren Film von Roberto Benigni - La vita è bella (1997), erinnern – zu Recht und auch eine gute Gelegenheit sich den Film nochmals anzusehen.

Aber zurück zum Buch: Was genau wir dazu beitragen können, die tagtäglichen Möglichkeiten des Glücks für uns zu nutzen, ist Gegenstand der folgenden Kapitel. Dabei spielt die These, dass uns unser Innenleben glücklich oder unglücklich mache eine bedeutende Rolle. (vgl. Lenoir 2015, 59) An dieser Stelle prägt der Autor auch erstmals den Begriff von der Arbeit am eigenen Innenleben. Diese Arbeit verläuft dabei – folgt man den Ausführungen des Autors – entlang drei großer Weisheitspfade – Erstens: die Umwandlung des Verlangens. Zweitens: das gelöste Einhergehen mit dem Leben. Und drittens: die freudvolle Befreiung des Ich. (vgl. Lenoir 2015, 122). 

Das Beschreiten dieser Pfade wird als eine individuelle Angelegenheit beschrieben – „Jeder muss sich selbst erforschen, um herauszufinden, was ihn glücklich oder unglücklich macht, was ihm guttut oder nicht, was seine Freude steigert und seine Unlust vermindert.“ (Lenoir 2015, 175) Diese Pfade führen am Ende zu einer ganz besonderen Lichtung – einer Lichtung, die als unser tiefster Wesensgrund verstanden wird. Glücklich sein heißt – nach Frédéric Lenoir – „mit unserem tiefsten Wesensgrund mitschwingen.“ (Lenoir 2015, 199). 

Fazit – „Weil jeder seine Welt im Herzen trägt“ (Lenoir 2015, 192)

Geht man nach dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, der von vielen Interpreten immer wieder als Gewährsmann für die Vorstellung vom Leben als Lebensform bemüht wird, die ihre Form vor allem durch die Konstruktion von Sinn gewinnt, dann wäre die Sache mit dem Glück eine ziemlich einfache: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (zitiert nach Watzlawick et al. 1994, 77) Offenbar kommt der Bedeutung – vor allem den Wortbedeutungen – eine große Rolle zu, wenn es um das nähere Verständnis dieser scheinbaren Tautologie geht. In der aktuellen Psychologie begegnet man einem vielversprechenden Ansatz zur Klärung von Bedeutungen. So schreibt etwa der deutsche Psychologe Peter Michael Bak: „Bedeutung ist demnach der Erkenntnisschlüssel zu uns und zu anderen. Daraus lässt sich auch eine ethische Komponente von Bedeutung ableiten. Wenn wir unsere Bedeutungen kennen, kennen wir uns. Und es zeigt uns die Möglichkeiten auf, unser Leben so oder anders zu gestalten. Gleichzeitig sind wir bei der Beurteilung und Bewertung der uns umgebenden Menschen und Situationen zur Vorsicht gemahnt. Deren Erleben und Verhalten lässt sich nur aus deren Bedeutungssystem ableiten, was zu kennen uns verwehrt bleiben wird. Dies im eigenen Erleben und Verhalten zu berücksichtigen mag tatsächlich eine der besten Möglichkeiten darstellen, die Menge ähnlicher Welt-Bedeutungen zu erweitern und dadurch die Chance auf gegenseitiges Verständnis und eine friedvolle Koexistenz der Bedeutungsgeber zu erhöhen.“ (Bak 2012, 9) Wenn Bedeutung ein wichtiger Erkenntnisschlüssel zum Verständnis des Lebens ist, dann ist er es auch ein wichtiger Erkenntnisschlüssel zum Verständnis des Glücks. Frédéric Lenoir beschreibt das Glück als die Fähigkeit das Leben zu lieben: „Glücklich sein heißt, das Leben zu lieben, das ganze Leben: mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen lichten und dunklen Zeiten, seinen Freuden und seinen Schmerzen.“ (Lenoir 2015, 193)

Dieser Sentenz nähert er sich durch die Verknüpfung vieler unterschiedlicher Aspekte, die er aus den Schriften von Philosophen und anderer Schriftsteller extrahiert. Heraus kommt ein Destillat, das gleichwohl vielfarbig schillert, das aber analytisch – wenn man sich dem Phänomen des Glücks kritisch nähern möchte – wenig mehr hergibt, als die Aufzählung mehr oder minder bekannter Zitate bekannter Philosophen.
Leider bleibt damit nicht mehr als ein leicht lesbares Kompendium altbekannter Weisheiten, gespickt mit persönlichen Bemerkungen.

Der ausformulierten Essenz des Buches – Glück stelle sich ein, wenn wir die Arbeit an unserem Innenleben vorantrieben und dabei drei wesentliche Aufgaben bewältigen könnten, nämlich Selbsterkenntnis, die Beherrschung unserer Wünsche und die Befriedung unserer störenden Emotionen oder irreführenden Gedanken (vgl. Lenoir 2015, 198) – lässt sich am Ende wenig entgegenstellen – aber auch wenig entnehmen. Über das Glück haben französische Autoren schon Brauchbareres zu erzählen verstanden – ich denke da an das wunderbare Buch von Hectors Reise (Lelord 2015). Dennoch – was über das Reisen gesagt wurde: „Reisen heißt leben. Jedenfalls doppelt, dreifach, mehrfach leben“ (Stasiuk 2008, 39), lässt sich auch auf das Lesen anwenden – Lesen heißt Leben. Das Buch von Frédéric Lenoir bietet – trotz aller Schwächen – eine gute Reflexionsmöglichkeit der eigenen Glücksvorstellungen. Vielleicht sollte man dabei auch überlegen, ob Glück überhaupt eine persönliche Zielvorstellung sein kann – ganz im Sinne von: „Ich habe niemals eine Zielvorstellung gehabt. Ich bin ein Weg und kein Ziel.“ (Daniel Libeskind, verantwortlich für den Wiederaufbau von „Ground Zero“ zitiert nach Virilio 2010, 22)

Aber am Ende wird es wohl auf so etwas wie die Bemerkung des amerikanischen Psychoanalytikers Stephen Grosz hinauslaufen: „I believe that all of us try to make sense of our lives by telling our stories …” (Grosz 2014, 9) Lebenskompetenz, so wie ich sie verstehe, ist die Fähigkeit mit dem Leben und dem, was das Leben uns zu bieten hat, eigenständig umgehen zu können. Es ist einer geschickten Autorenschaft gleich, mit der wir unserem Leben Sinn geben, indem wir es als unsere persönliche Geschichte verstehen.

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Bak, P. M. (2012). "Über das Wesen von Bedeutung." Philosophie der Psychologie.

Bennent-Vahle, H. (2011). Glück kommt von Denken - Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder

de Shazer, S. und Y. Dolan (2011 [2007]). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg (GER), Carl-Auer-Systeme Verlag

Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books

Handke, P. (2015). Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße - Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten. Berlin (GER), Suhrkamp Verlag

Hawking, S. W. (2013). My Brief History. New York, NY (USA), Bantam Books

Lelord, F. (2015 [2002]). Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück. München (GER) & Zürich (SUI), Piper Verlag

Stasiuk, A. (2008 [2006]). Fado - Reiseskizzen. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Watzlawick, P., et al. (1994 [1974]). Lösungen - Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern (SUI), Verlag Hans Huber

Virilio, P. (2010 [2009]). Der Futurismus des Augenblicks. Wien (AUT), Passagen Verlag

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