Holm-Hadulla, R. M. (2015). Integrative Psychotherapie - Zwölf exemplarische Geschichten aus der Praxis. Stuttgart (GER), Klett-Cotta
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Klett-Cotta Verlag zur Verfügung gestellt – www.klett-cotta.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Psychotherapie, , Psychotherapieforschung, Leid,
Lebensform, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Fallgeschichten, Lebenskompetenz
Integrative Psychotherapie – Aus der Praxis, für die Praxis
Rainer Matthias Holm-Hadulla bringt in seinem aktuellen
Buch einen Gedanken zur Sprache, der sich sicherlich vielen Menschen aufdrängt,
die sich mit sich und anderen Menschen beschäftigen: „Unterstützende
Beziehungen begleiten das gesamte Leben.“ (Holm-Hadulla
2015, 122) Diese Beziehungen manifestieren sich in Gesprächen und stehen für
den Austausch von Werten und Wertschätzungen.
In diesen Gesprächen kommen immer wieder Geschichten
zur Sprache, in die wir unser eigenes Leben kleiden, oder in die unser Leben
von anderen verdichtet wird. Für manche Psychotherapeuten, ist dieses
In-Geschichten-Verdichten von Leben und Lebensereignissen ein menschliches
Grundbedürfnis: „I believe all of us try to make sense of our lives by telling
our stories.“ (Grosz 2014,
9)
Psychotherapie stellt für immer mehr Menschen einen
gangbaren Weg zu einem integren Leben, zu einem bewusst gestalteten Leben dar.
Psychotherapie als ganz besondere Wachstumsmöglichkeit – als ein Raum, in dem
es möglich wird, unter Anleitung neue Perspektiven zu erarbeiten und mit
Fehlurteilen und Fehlverhalten besser umgehen zu lernen. – Rainer Matthias
Holm-Hadulla spricht in diesem Zusammenhang auch von „Resonanzräumen“.
Psychotherapie findet demnach in diesen dialogischen Resonanzräumen statt - Egon
Fabian führt konsequenterweise diese beiden Aspekte in seiner Definition der
Ziele von Psychotherapie an: Leidensminderung und persönliches Wachstum - “Wenn
das Ziel einer erfolgreichen Psychotherapie nicht nur in der Linderung von Leid
und Konflikten besteht, sondern auch das innere Wachstum des Patienten fördern
soll, dann muss der Patient allmählich lernen, sich über seine eigenen Probleme
zu erheben bzw. diese aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“ (Fabian 2015, 118)
Fallgeschichten aus der Psychotherapie sind Modelle dafür,
wie es anderen Menschen gelingt, ihre Probleme zu bewältigen, beziehungsweise,
wie es Menschen gelingt, andere dabei anzuleiten, Leidensminderung und
persönliches Wachstum zu erreichen. Psychotherapeutische Erfolgsgeschichten –
Fallbesprechungen, systematisch aufgearbeitet – bieten daher eine wertvolle
Quelle an den Veränderungsprozessen anderer Menschen teilzuhaben. Dabei gilt
aber: „Heute ist weniger interessant, was ein Patient in einem
Vorher-Nachher-Vergleich an Veränderungen zu erkennen gibt als vielmehr der
Prozess der psychotherapeutischen Veränderung selbst. Wie viel trägt die
gewählte psychotherapeutische Methode zur Veränderung bei, inwieweit ist diese
der Persönlichkeit des Psychotherapeuten zuzuschreiben.“ (Körner 2015, 14)
Diesen Prozess sichtbar zu machen ist eine Kunst für
sich – je nach intellektueller Ausrichtung lässt sich das über den Weg der
Psychotherapieforschung, der psychotherapeutischen Fallsammlung, oder der
literarischen Verfremdung individueller Fälle erreichen. Allen diesen Versuchen
gemeinsam ist das – nicht immer ausdrücklich formulierte – Bemühen, der
Wirkungsweise von Psychotherapie auf die Spur zu kommen – in der Fachliteratur
finden sich dementsprechend Auflistungen möglicher Faktoren: „In der Prozess-
und Outcome-Forschung werden vier bedeutsame Wirkfaktoren unterschieden, die
den Therapieerfolg erklären: a) extratherapeutische Faktoren, wie die soziale
Unterstützung durch das Umfeld … b) allgemeine Wirkfaktoren, beispielsweise die
therapeutische Beziehung und die Empathie des Therapeuten … c) Erwartungen an
den Therapeuten bzw. die Persönlichkeit des Therapeuten … und d)
methodenspezifische Techniken bzw. Wirkfaktoren.“ (Hau et al. im Erscheinen)
Es gibt aber auch das Interesse, Psychotherapie als
Kulturtechnik selbst, in den Blick zu bekommen – die Soziologin Eva Illouz hat
sich der Psychotherapie sehr kritisch genähert und dabei zahlreiche empirischer
Befunde durch eine kritisch-soziologische Perspektive analysiert. Auch wenn sie
mit einem skeptischen Befund ihre Untersuchung beschlossen hat – die
Auseinandersetzung lohnt sich, um das Profil der Psychotherapie schärfen zu
können.
Dennoch: Aus der großen Bedeutung menschlicher
Beziehungen und Gespräche folgt aber nicht notwendigerweise der passende
Verfahrensmodus für Psychotherapie – „Die psychotherapeutische Beziehung stellt
einen Spezialfall dar, indem die positiven Aspekte persönlicher Beziehungen systematisch
genutzt werden: Vertrauen, Offenheit, Einfühlung, Verständnis und
Wertschätzung.“ (Holm-Hedulla 2015,
122) Das Buch ist eine Darlegung einer besonderen Form von Psychotherapie.
Zum Autor
Rainer Matthias Holm-Hadulla kann auf ein breites
Interessens- und Ausbildungsspektrum zurückgreifen. Er ist Professor für
Psychotherapeutische Medizin, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Leitender Arzt der Psycho-Sozialen Beratungsstelle
für Studierende an der Universität Heidelberg, Gastprofessor an der Universidad
Diego Portales in Santiago de Chile, Fellow am internationalen Kolleg
"Morphomata" am Center for Advanced Studies der Universität zu Köln,
Fellow am "Marsilius-Kolleg" am Center for Advanced Studies der
Universität Heidelberg, Gastprofessor an der Pop-Akademie Baden-Württemberg in Mannheim.
Details finden sich hier: www.holm-hadulla.de
Aufbau des Buches und das das ABCDE-Modell der integrativen Psychotherapie
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert – im ersten Teil werden
12 Behandlungsgeschichten erzählt, die jeweils in den Rahmen einer konkreten Problemstellung
gestellt werden – so ist die erste Geschichte mit dem Titel „Belastungsreaktion“,
die elfte mit dem Titel „Psychotische Episoden“ überschrieben. In den
Geschichten finden sich viele relevante Themen besprochen, die einerseits das
Feld der Psychotherapie so spannend gestalten und andererseits die vielen
Menschen großes Leid verschaffen – Depressionen, Ängste, Anpassungsstörungen,
Psychosomatische Beschwerden.
Die Geschichten werden vom Autor um sein ABCDE-Modell der
integrativen Psychotherapie gegliedert, das den Kern der psychotherapeutischen
Intervention ausmacht. Dieses Modell wird im zweiten Teil des Buches
beschrieben. Die Geschichten stehen inhaltlich alle für sich und können auch
einzeln gelesen werden – das ABCDE-Modell sollte dennoch an erster Stelle
gelesen werden, um die therapeutischen Interventionen und den Verlauf der
Geschichten nutzbringender lesen zu können.
Zu den grundlegenden Einsichten für sein ABCDE-Modell verweist
Rainer Matthias Holm-Hadulla auf zwei wichtige Ideengeber – auf Arnold A. Lazarus
mit seinen Überlegungen zum „technischen Eklektizismus“ und auf Jerome Frank,
der Psychotherapie als komplexe Gesprächs- und Verstehkunst aufgefasst und
dementsprechend in seinen Büchern ausgearbeitet hat.
Das Modell selbst umfasst die Gestaltung der therapeutischen
Beziehung (alliance – A), die Modifikation unangemessenen Verhaltens (behavior –
B), die Klärung dysfunktionaler Einstellungen (cognition –C), die Erhellung der
unbewussten Konfliktdynamik (dynamics – D) und das Verstehen und die
Kommunikation als existentielle und kreative Aufgabe (existentials – E). (Holm-Hadulla 2015, 120-121)
Fazit
Was
zu kurz gekommen ist lässt sich anhand dreier Beispiele festmachen:
a)
eine systematische Auseinandersetzung mit dem Eklektizismus
Nach
dem Verständnis des Autors steht der Begriff des Eklektizismus vor allem für
die positive „Integration von Elementen, die sich in den verschiedenen Schulen
als hilfreich erwiesen haben.“ (Holm-Hadulla
2015, 118). Weit geteilt ist die Ansicht, dass es im Eklektizismus vor allem um
die Zusammenfügung von verschiedenen Versatzstücken aus unterschiedlichen
Theorien und Systemen geht. (beispielhaft https://de.wikipedia.org/wiki/Eklektizismus) Selbst wenn
man der Pragmatik dieser Integration Plausibilität zugesteht bleiben dennoch
viele Fragen offen. So befreit die eklektische Zusammenführung verschiedener
Teile ja nicht von einem allgemeinen Verständnis des Ganzen, zu dem man diese
Teile zusammenfügt; sprich: die Integration alleine ergibt noch keine
Beschreibung des Fundaments, auf das man sein Denken und Handeln gründet.
Desweiteren ist nicht klar, inwieweit sich diese Integration widerspruchsfrei, d.h.
konsistent durchführen lässt – mit jedem Versatzstück holt man sich ja auch
bestimmte Grundannahmen und Implikationen in das neue Ganze. Drittens ist nicht
ganz klar, wie die theoretische und praktische Weiterentwicklung des neuen
Ganzen vonstatten gehen soll – Theorien werden an ihrer Kraft gemessen,
Voraussagen und Erklärungen für bestimmte Phänomene zu liefern – die
Falsifikationen an der Erfahrung erfordern Reformulierungen der theoretischen
Annahmen.
b)
die Chancen der modernen Psychotherapieforschung
Dokumentation
und transparente Nachvollziehbarkeit der Diagnose und der Therapieplanung,
sowie des Therapiefortschritts sind integrale Bestandteile einer transparenten
Psychotherapieforschung. Dieser Transparenz kommt der Autor in seinen
Fallgeschichten nur bedingt nach. Das strukturierte Vorgehen ist aber sehr wohl
dazu geeignet, auch dem wissenschaftlichen Interesse zu dienen – schade, dass
dieser Aspekt zu kurz gekommen ist.
c)
Lernen am Misserfolg
Leider
kommt auch in diesem Buch der Misserfolg viel zu kurz – es werden ausschließlich
Erfolgsgeschichten erzählt. Dabei sind es nachgewiesenermaßen die
fehlerbehafteten Bemühungen, aus denen der größte Lernerfolg gezogen werden
kann. Fallbesprechungen, die nur erfolgreich absolvierte Interventionen
nachzeichnen, erlauben kein Lernen aus Fehlern oder aus der fehlenden Passung
zwischen Therapeuten/Therapierichtung und Patient/Problemstellung. Die Hinweise
des Autors, dass manche Patienten eine längerfristige Therapie zur Erarbeitung
ihres Therapieziels benötigen würden, lässt Fehler und Fehlpassungen nur
bedingt transparent werden.
d)
Alternative Darstellungsformen von Psychotherapie
Das
Buch verfolgt das Ziel, das ABCDE-Modell in der psychotherapeutischen Praxis
vorzustellen. Dieses Ziel erreicht der Autor vollends. Was dabei aber etwas zu
kurz kommt ist, welche anderen Möglichkeiten es gibt, psychotherapeutisches
Wissen zu vermitteln, oder noch spitzer formuliert: Was fehlt ist die
Begründung dafür, weshalb psychotherapeutische Fallgeschichten Möglichkeiten
des Wissenserwerbs darstellen und wie sich diese Form zu anderen Formen der
Darstellung psychotherapeutischer Interventionen verhält. (vgl. Grosz 2014, Jupiter 2012, Rolón 2014)
e) Zur
Theorie des Therapieziels
Gerade
in der Psychotherapie bietet die Selbstbestimmtheit in der Zielformulierung einen
konkreten Anlass, sich über die inhaltliche Ausrichtung des zugrunde gelegten Psychotherapiemodells
klarer zu werden. Die Integration verschiedener, sich über die unterschiedlichen
Schulen hinweg bewährenden, Techniken alleine, löst nicht die Frage nach der
adäquaten Formulierung des Therapieziels. Standardisierte zielorientierte
Veränderungsmessungen sind aber nachgewiesenermaßen ein notwendiger und
wichtiger Schritt zur Professionalisierung und Akademisierung von
Psychotherapie durch Psychotherapieforschung (vgl. Watzke et al. 2014)
Alles
in allem ein gelungenes Buch, von dem ich mir einen ausführlicheren zweiten
Teil gewünscht hätte. Die Fallgeschichten selbst bleiben hingegen erzählerisch
blass – die Veränderungen auf Patientenseite blieben großteils intransparent,
die Schilderung des Therapieverlaufs aus Sicht des Therapeuten kann diesen
Mangel nicht kompensieren. So stellt sich beim Lesen nicht das Gefühl ein, man
wäre dabei, man wäre Teil des psychotherapeutischen Gesprächs. Es kommt eher
einer Erzählung aus dem beruflichen Alltag gleich – so war es bei mir …
Harald
G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Fabian, E. (2015). Humor und seine Bedeutung für die
Psychotherapie. Gießen (GER), Psychosozial Verlag
Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We
Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books
Hau, C. et al. (im Erscheinen). Vergleich
therapeutenspezifischer Wirkfaktoren im psychoanalytischen, psychoanalytisch
orientierten und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprozess der
Depression. Psychotherapie Forum (DOI 10.1007/s00729-015-0030-y)
Illouz, E. (2011 [2008]). Die Errettung der modernen Seele - Therapien,
Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
Jupiter, E. (2012). Die Angst vor Jakob - Psychotherapeutische
Geschichten. Wien (AUT), Picus Verlag
Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life
Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University
Press
Körner, J. (2015) Psychotherapeutische Kompetenzen. Ein Praxismodell zu
Kompetenzprofilen in der Aus- und Weiterbildung. Wiesbaden (GER), Springer
Fachmedien Wiesbaden
Rolón, G. (2014 [2007]). Auf der Couch - Wahre Geschichten aus der
Psychotherapie. München (GER), Btb Verlag
Watzke, B. et al. (2014) Zielorientierte Veränderungsmessungen als Möglichkeit
einer individualisierten Ergebnisevaluation in der Psychotherapie. Zeitschrift
für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 62(2): 113-121
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