Mittwoch, 17. Juni 2015

Integrative Psychotherapie in der Praxis - Eine Rezension zum aktuellen Buch von Rainer Matthias Holm-Hadulla


Holm-Hadulla, R. M. (2015). Integrative Psychotherapie - Zwölf exemplarische Geschichten aus der Praxis. Stuttgart (GER), Klett-Cotta
 
Das Buch wurde freundlicherweise vom Klett-Cotta Verlag zur Verfügung gestellt – www.klett-cotta.de

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Psychotherapie, , Psychotherapieforschung, Leid, Lebensform, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Fallgeschichten, Lebenskompetenz 

Integrative Psychotherapie – Aus der Praxis, für die Praxis

Rainer Matthias Holm-Hadulla bringt in seinem aktuellen Buch einen Gedanken zur Sprache, der sich sicherlich vielen Menschen aufdrängt, die sich mit sich und anderen Menschen beschäftigen: „Unterstützende Beziehungen begleiten das gesamte Leben.“ (Holm-Hadulla 2015, 122) Diese Beziehungen manifestieren sich in Gesprächen und stehen für den Austausch von Werten und Wertschätzungen.
In diesen Gesprächen kommen immer wieder Geschichten zur Sprache, in die wir unser eigenes Leben kleiden, oder in die unser Leben von anderen verdichtet wird. Für manche Psychotherapeuten, ist dieses In-Geschichten-Verdichten von Leben und Lebensereignissen ein menschliches Grundbedürfnis: „I believe all of us try to make sense of our lives by telling our stories.“ (Grosz 2014, 9)

Psychotherapie stellt für immer mehr Menschen einen gangbaren Weg zu einem integren Leben, zu einem bewusst gestalteten Leben dar. Psychotherapie als ganz besondere Wachstumsmöglichkeit – als ein Raum, in dem es möglich wird, unter Anleitung neue Perspektiven zu erarbeiten und mit Fehlurteilen und Fehlverhalten besser umgehen zu lernen. – Rainer Matthias Holm-Hadulla spricht in diesem Zusammenhang auch von „Resonanzräumen“. Psychotherapie findet demnach in diesen dialogischen Resonanzräumen statt - Egon Fabian führt konsequenterweise diese beiden Aspekte in seiner Definition der Ziele von Psychotherapie an: Leidensminderung und persönliches Wachstum - “Wenn das Ziel einer erfolgreichen Psychotherapie nicht nur in der Linderung von Leid und Konflikten besteht, sondern auch das innere Wachstum des Patienten fördern soll, dann muss der Patient allmählich lernen, sich über seine eigenen Probleme zu erheben bzw. diese aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“ (Fabian 2015, 118)

Fallgeschichten aus der Psychotherapie sind Modelle dafür, wie es anderen Menschen gelingt, ihre Probleme zu bewältigen, beziehungsweise, wie es Menschen gelingt, andere dabei anzuleiten, Leidensminderung und persönliches Wachstum zu erreichen. Psychotherapeutische Erfolgsgeschichten – Fallbesprechungen, systematisch aufgearbeitet – bieten daher eine wertvolle Quelle an den Veränderungsprozessen anderer Menschen teilzuhaben. Dabei gilt aber: „Heute ist weniger interessant, was ein Patient in einem Vorher-Nachher-Vergleich an Veränderungen zu erkennen gibt als vielmehr der Prozess der psychotherapeutischen Veränderung selbst. Wie viel trägt die gewählte psychotherapeutische Methode zur Veränderung bei, inwieweit ist diese der Persönlichkeit des Psychotherapeuten zuzuschreiben.“ (Körner 2015, 14)

Diesen Prozess sichtbar zu machen ist eine Kunst für sich – je nach intellektueller Ausrichtung lässt sich das über den Weg der Psychotherapieforschung, der psychotherapeutischen Fallsammlung, oder der literarischen Verfremdung individueller Fälle erreichen. Allen diesen Versuchen gemeinsam ist das – nicht immer ausdrücklich formulierte – Bemühen, der Wirkungsweise von Psychotherapie auf die Spur zu kommen – in der Fachliteratur finden sich dementsprechend Auflistungen möglicher Faktoren: „In der Prozess- und Outcome-Forschung werden vier bedeutsame Wirkfaktoren unterschieden, die den Therapieerfolg erklären: a) extratherapeutische Faktoren, wie die soziale Unterstützung durch das Umfeld … b) allgemeine Wirkfaktoren, beispielsweise die therapeutische Beziehung und die Empathie des Therapeuten … c) Erwartungen an den Therapeuten bzw. die Persönlichkeit des Therapeuten … und d) methodenspezifische Techniken bzw. Wirkfaktoren.“ (Hau et al. im Erscheinen) 

Es gibt aber auch das Interesse, Psychotherapie als Kulturtechnik selbst, in den Blick zu bekommen – die Soziologin Eva Illouz hat sich der Psychotherapie sehr kritisch genähert und dabei zahlreiche empirischer Befunde durch eine kritisch-soziologische Perspektive analysiert. Auch wenn sie mit einem skeptischen Befund ihre Untersuchung beschlossen hat – die Auseinandersetzung lohnt sich, um das Profil der Psychotherapie schärfen zu können. 

Dennoch: Aus der großen Bedeutung menschlicher Beziehungen und Gespräche folgt aber nicht notwendigerweise der passende Verfahrensmodus für Psychotherapie – „Die psychotherapeutische Beziehung stellt einen Spezialfall dar, indem die positiven Aspekte persönlicher Beziehungen systematisch genutzt werden: Vertrauen, Offenheit, Einfühlung, Verständnis und Wertschätzung.“ (Holm-Hedulla 2015, 122) Das Buch ist eine Darlegung einer besonderen Form von Psychotherapie. 

Zum Autor

Rainer Matthias Holm-Hadulla kann auf ein breites Interessens- und Ausbildungsspektrum zurückgreifen. Er ist Professor für Psychotherapeutische Medizin, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Leitender Arzt der Psycho-Sozialen Beratungsstelle für Studierende an der Universität Heidelberg, Gastprofessor an der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile, Fellow am internationalen Kolleg "Morphomata" am Center for Advanced Studies der Universität zu Köln, Fellow am "Marsilius-Kolleg" am Center for Advanced Studies der Universität Heidelberg, Gastprofessor an der Pop-Akademie Baden-Württemberg in Mannheim. Details finden sich hier: www.holm-hadulla.de 

Aufbau des Buches und das das ABCDE-Modell der integrativen Psychotherapie

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert – im ersten Teil werden 12 Behandlungsgeschichten erzählt, die jeweils in den Rahmen einer konkreten Problemstellung gestellt werden – so ist die erste Geschichte mit dem Titel „Belastungsreaktion“, die elfte mit dem Titel „Psychotische Episoden“ überschrieben. In den Geschichten finden sich viele relevante Themen besprochen, die einerseits das Feld der Psychotherapie so spannend gestalten und andererseits die vielen Menschen großes Leid verschaffen – Depressionen, Ängste, Anpassungsstörungen, Psychosomatische Beschwerden. 

Die Geschichten werden vom Autor um sein ABCDE-Modell der integrativen Psychotherapie gegliedert, das den Kern der psychotherapeutischen Intervention ausmacht. Dieses Modell wird im zweiten Teil des Buches beschrieben. Die Geschichten stehen inhaltlich alle für sich und können auch einzeln gelesen werden – das ABCDE-Modell sollte dennoch an erster Stelle gelesen werden, um die therapeutischen Interventionen und den Verlauf der Geschichten nutzbringender lesen zu können.

Zu den grundlegenden Einsichten für sein ABCDE-Modell verweist Rainer Matthias Holm-Hadulla auf zwei wichtige Ideengeber – auf Arnold A. Lazarus mit seinen Überlegungen zum „technischen Eklektizismus“ und auf Jerome Frank, der Psychotherapie als komplexe Gesprächs- und Verstehkunst aufgefasst und dementsprechend in seinen Büchern ausgearbeitet hat. 

Das Modell selbst umfasst die Gestaltung der therapeutischen Beziehung (alliance – A), die Modifikation unangemessenen Verhaltens (behavior – B), die Klärung dysfunktionaler Einstellungen (cognition –C), die Erhellung der unbewussten Konfliktdynamik (dynamics – D) und das Verstehen und die Kommunikation als existentielle und kreative Aufgabe (existentials – E). (Holm-Hadulla 2015, 120-121) 

Fazit

Was zu kurz gekommen ist lässt sich anhand dreier Beispiele festmachen:

a) eine systematische Auseinandersetzung mit dem Eklektizismus
Nach dem Verständnis des Autors steht der Begriff des Eklektizismus vor allem für die positive „Integration von Elementen, die sich in den verschiedenen Schulen als hilfreich erwiesen haben.“ (Holm-Hadulla 2015, 118). Weit geteilt ist die Ansicht, dass es im Eklektizismus vor allem um die Zusammenfügung von verschiedenen Versatzstücken aus unterschiedlichen Theorien und Systemen geht. (beispielhaft https://de.wikipedia.org/wiki/Eklektizismus) Selbst wenn man der Pragmatik dieser Integration Plausibilität zugesteht bleiben dennoch viele Fragen offen. So befreit die eklektische Zusammenführung verschiedener Teile ja nicht von einem allgemeinen Verständnis des Ganzen, zu dem man diese Teile zusammenfügt; sprich: die Integration alleine ergibt noch keine Beschreibung des Fundaments, auf das man sein Denken und Handeln gründet. Desweiteren ist nicht klar, inwieweit sich diese Integration widerspruchsfrei, d.h. konsistent durchführen lässt – mit jedem Versatzstück holt man sich ja auch bestimmte Grundannahmen und Implikationen in das neue Ganze. Drittens ist nicht ganz klar, wie die theoretische und praktische Weiterentwicklung des neuen Ganzen vonstatten gehen soll – Theorien werden an ihrer Kraft gemessen, Voraussagen und Erklärungen für bestimmte Phänomene zu liefern – die Falsifikationen an der Erfahrung erfordern Reformulierungen der theoretischen Annahmen.

b) die Chancen der modernen Psychotherapieforschung
Dokumentation und transparente Nachvollziehbarkeit der Diagnose und der Therapieplanung, sowie des Therapiefortschritts sind integrale Bestandteile einer transparenten Psychotherapieforschung. Dieser Transparenz kommt der Autor in seinen Fallgeschichten nur bedingt nach. Das strukturierte Vorgehen ist aber sehr wohl dazu geeignet, auch dem wissenschaftlichen Interesse zu dienen – schade, dass dieser Aspekt zu kurz gekommen ist.

c) Lernen am Misserfolg
Leider kommt auch in diesem Buch der Misserfolg viel zu kurz – es werden ausschließlich Erfolgsgeschichten erzählt. Dabei sind es nachgewiesenermaßen die fehlerbehafteten Bemühungen, aus denen der größte Lernerfolg gezogen werden kann. Fallbesprechungen, die nur erfolgreich absolvierte Interventionen nachzeichnen, erlauben kein Lernen aus Fehlern oder aus der fehlenden Passung zwischen Therapeuten/Therapierichtung und Patient/Problemstellung. Die Hinweise des Autors, dass manche Patienten eine längerfristige Therapie zur Erarbeitung ihres Therapieziels benötigen würden, lässt Fehler und Fehlpassungen nur bedingt transparent werden.

d) Alternative Darstellungsformen von Psychotherapie
Das Buch verfolgt das Ziel, das ABCDE-Modell in der psychotherapeutischen Praxis vorzustellen. Dieses Ziel erreicht der Autor vollends. Was dabei aber etwas zu kurz kommt ist, welche anderen Möglichkeiten es gibt, psychotherapeutisches Wissen zu vermitteln, oder noch spitzer formuliert: Was fehlt ist die Begründung dafür, weshalb psychotherapeutische Fallgeschichten Möglichkeiten des Wissenserwerbs darstellen und wie sich diese Form zu anderen Formen der Darstellung psychotherapeutischer Interventionen verhält. (vgl. Grosz 2014, Jupiter 2012, Rolón 2014)

e) Zur Theorie des Therapieziels
Gerade in der Psychotherapie bietet die Selbstbestimmtheit in der Zielformulierung einen konkreten Anlass, sich über die inhaltliche Ausrichtung des zugrunde gelegten Psychotherapiemodells klarer zu werden. Die Integration verschiedener, sich über die unterschiedlichen Schulen hinweg bewährenden, Techniken alleine, löst nicht die Frage nach der adäquaten Formulierung des Therapieziels. Standardisierte zielorientierte Veränderungsmessungen sind aber nachgewiesenermaßen ein notwendiger und wichtiger Schritt zur Professionalisierung und Akademisierung von Psychotherapie durch Psychotherapieforschung (vgl. Watzke et al. 2014)

Alles in allem ein gelungenes Buch, von dem ich mir einen ausführlicheren zweiten Teil gewünscht hätte. Die Fallgeschichten selbst bleiben hingegen erzählerisch blass – die Veränderungen auf Patientenseite blieben großteils intransparent, die Schilderung des Therapieverlaufs aus Sicht des Therapeuten kann diesen Mangel nicht kompensieren. So stellt sich beim Lesen nicht das Gefühl ein, man wäre dabei, man wäre Teil des psychotherapeutischen Gesprächs. Es kommt eher einer Erzählung aus dem beruflichen Alltag gleich – so war es bei mir …

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Fabian, E. (2015). Humor und seine Bedeutung für die Psychotherapie. Gießen (GER), Psychosozial Verlag

Grosz, S. (2014 [2013]). The Examinded Life - How We Lose and Find Ourselves. London (UK), Vintage Books

Hau, C. et al. (im Erscheinen). Vergleich therapeutenspezifischer Wirkfaktoren im psychoanalytischen, psychoanalytisch orientierten und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprozess der Depression. Psychotherapie Forum (DOI 10.1007/s00729-015-0030-y)

Illouz, E. (2011 [2008]). Die Errettung der modernen Seele - Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Jupiter, E. (2012). Die Angst vor Jakob - Psychotherapeutische Geschichten. Wien (AUT), Picus Verlag

Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University Press

Körner, J. (2015) Psychotherapeutische Kompetenzen. Ein Praxismodell zu Kompetenzprofilen in der Aus- und Weiterbildung. Wiesbaden (GER), Springer Fachmedien Wiesbaden

Rolón, G. (2014 [2007]). Auf der Couch - Wahre Geschichten aus der Psychotherapie. München (GER), Btb Verlag

Watzke, B. et al. (2014) Zielorientierte Veränderungsmessungen als Möglichkeit einer individualisierten Ergebnisevaluation in der Psychotherapie. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 62(2): 113-121

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