Donnerstag, 17. August 2017

Rezension: Michael Tischinger - Selbstliebe

Rezension: Michael Tischinger - Selbstliebe
Sich in der Liebe üben und einen Zugang zu inneren Ressourcen finden!
Michael Tischinger (2017). Selbstliebe - Weg der inneren Heilung. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder
Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.herder.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Leben, Lebensbewältigung, Liebe, Spiritualität, Lebenskompetenz, Philosophie, Rezension

Gedanken über die Macht eines Gefühls

Rezension Harald G. Kratochvila - Michael Tischinger (2017) SelbstliebeKrisen, Verletzungen, Schwierigkeiten - wir Menschen sind fast täglich mit Gefühlen konfrontiert, die in solchen Situationen hervorgerufen werden und versuchen dabei, dem Leben eine Bedeutung oder einen Sinn zu geben: „Lernen wir zu leben, so ist Leben selbst die Bedeutung.“ (Tischinger 2017, 9) Doch zu dieser Erkenntnis ist es ein weiter Weg - oftmals haben wir den Eindruck, als wäre er auch bloß eine Fiktion - „Aber jeder Mensch kann und soll Mensch sein, also in seinem Leben dem, was er sein könnte, möglichst nahekommen. Und da Menschen immer wieder davor zurückschrecken, sie selbst zu sein, gehört Mut dazu, ein Selbst, ein Mensch zu sein.“ (Zaborowski 2016, 15)
Sich zu seinem Leben eine tragfähige Fiktion zu konstruieren, diese Konstruktion auch mit anderen Menschen auszutauschen, ist das, was oftmals mit Psychotherapie in Verbindung gebracht wird (vgl. Coetzee/Kurtz 2015, 252) - „Leben ist Geschichte - Geschichten sind Leben.“ (Tischinger 2017, 44) „Bei der Achtsamkeit dreht sich ja alles darum, dass wir uns ehrlich dem stellen, was in uns vorgeht, und wenn es sich um schwierige Dinge wie Kränkung oder Traurigkeit handelt, sind wir dazu nicht ohne Weiteres bereit.“ (Gunatillake 2016, 217)
Die Krisen des Lebens sind individuelle Kristallisationspunkte für Überlegungen zum eigenen Leben und sehr oft begegnet einem dabei das Phänomen, das der französische Schriftsteller Florian Zeller in den Satz gefügt hat „Life ist full of interruptions, but …“ (Zeller 2016, 36) Die Kunst des Lebens liegt vielleicht gerade in diesem Erleben und  Aufspüren solcher Unterbrechungen, und wahrscheinlich vielmehr noch im Innehalten darin. Die Orientierung in solchen Situationen lässt sich oft an bestimmten Fragen festmachen - Fragen nach den individuellen Werthaltungen, nach den sinnvollen Tätigkeiten im eigenen Leben und der Frage, wie es wohl weitergehen kann. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Erlebnisse und Erfahrungen, die wir machen, bereits mit unserer Geschichte imprägniert sind - „Die Ereignisse laden sich mit einer Bedeutung auf, die aus unserer Geschichte stammt.“ (Cyrulnik 2006, 168)
Das Thema Selbstliebe lässt sich nicht von unserer Geschichte isolieren - und schon die bloße Beschäftigung damit kann ein Hinweis darauf sein, was uns wichtig ist und was uns verletzlich macht. „Was wir gewahren, ist in irgendeiner Weise signifikant; wir wissen bloß nicht genau, wie und wofür.“ (Ciompi 1997, 44)

Zum Autor

Rezension Harald G. Kratochvila - Michael Tischinger (2017) Selbstliebe
Michael Tischinger 
Michael Tischinger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin. Er ist Diplom-Theologe und hat mehrere psychotherapeutische Ausbildungen. Seine Ausbildungen und seine Interessen konvergieren zu der Beschäftigung mit den menschlichen Möglichkeiten, Sinn im Leiden erkennen zu können, um sich schließlich davon zu befreien. Sein Buch über die Selbstliebe schöpft aus seinem Wissen und seiner Erfahrung - er ist Chefarzt der Adula Klinik Oberstdorf.
Der Autor stellt sein Buch vor: Buchvorstellung Selbstliebe





„ … denn spurlos gibt es nicht, deine Spuren hattest du noch bevor ich dich erkannte, in mir eingegraben. Dich.Werde ich.Nicht mehr los.“ (Melle 2007, 190)

Michael Tischinger fasst Selbstliebe als etwas auf, dass uns in „Beziehung zur eigenen Mitte“ bringt (Tischinger 2017, 23) - diese Beziehung ist verknüpft mit „Achtung, Wertschätzung, Wohlwollen und Fürsorge für sich selbst“ (Tischinger 2017, 44). Was den Selbstliebenden vom Narzissten und Egoisten unterscheidet ist, dass es nicht bei der bloßen Selbstzuwendung bleibt, sondern es auch zu einer Hinwendung zu anderen kommt. Diese Hinwendung nimmt ihren Ausgang in der Beschäftigung mit mir selbst: „Der Weg der Selbstliebe beginnt … damit, dass ich mich für mich selbst interessiere.“ (Tischinger 2017, 76)
Dementsprechend beginnt Michael Tischinger sein Buch mit einem Kapitel über die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis - Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten zu Liebe und Selbstliebe. Den größten Teil des Buches machen widmet er den Facetten der Selbstliebe, die er anhand von Geschichten aus seiner Praxis schildert. Dadurch findet man sich als Leser sehr gut im Thema zurecht - „Leben ist Geschichte - Geschichten sind Leben“ (Tischinger 2017, 49)
Den Abschluss bildet ein Kapitel über die Möglichkeiten, dieses Wissen und diesen Zugang auch in sein eigenes Leben zu integrieren - und es läuft darauf hinaus, dass es möglich ist seine eigene Lebensgeschichte schöpferisch zu gestalten. 

Fazit

Michael Tischinger lässt sein Buch mit einem Zitat des tibetischen Meditationsmeisters Milarepa beginnen: „Wenn man alles, was einem begegnet, als Möglichkeit zu innerem Wachstum ansieht, gewinnt man innere Stärke.“ (Tischinger 2017, 7) Die gedankliche Rahmung der eigenen Erlebnisse hat einen großen Einfluss darauf, was wir aus unseren Erfahrungen lernen können. Gerade an psychischen Grenzerfahrungen lernen wir sehr viel darüber, was uns wichtig ist und uns ausmacht - „An der Grenze kommt der Mensch sich am nächsten.“ (Marti 2017, 73).
Michael Tischingers Ansatz, in kurzen Geschichten das Leben selbst sprechen und erzählen zu lassen, bietet sehr viele Möglichkeiten für Konvergenz. Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die zur Sprache kommen, sind vertraute Erzählungen, in die ich mich als Leser rasch einfinden konnte - das ganze Buch über ist ein vertrauter Ton beibehalten worden, ein Ton, der weder belehrt, noch korrigiert, aber sehr wohl anleitet und mehr Möglichkeiten schafft. Die Schriftstellerin Birgit Vanderbecke hat es einmal so ausgedrückt: „… und immer wenn es ums Leben geht, ist man besonders empfindlich.“ (Vanderbeke 1997, 10). Diese Empfindlichkeit ist bei Michael Tischinger in guten Händen Mit der Selbstliebe wird es vermutlich wie mit der Freiheit sein - „Freiheit ist häufig eine Fiktion, eine theoretische Option, die in der Praxis nicht leicht wahrzunehmen ist.“ (Van der Bellen 2015, 12) Aus der hilfreichen Fiktion Selbstliebe, die es nicht einfach hat, Realität zu werden, erwächst durch Geschichten und geteilten Erfahrungen eine Kompetenz und auch ein Weg - und Michael Tischinger ist ein passender Begleiter dafür - ein sehr gelungenes Buch. 

Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Ciompi, L. (2016 [1997]). Die emotionalen Grundlagen des Denkens - Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht

Coetzee, J. M. und A. Kurtz (2016 [2015]). Eine gute Geschichte - Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie. Frankfurt/Main (GER), S. Fischer Verlag

Cyrulnik, B. (2007 [2006]). Mit Leib und Seele - Wir wir Krisen bewältigen. Hamburg (GER), Hoffmann und Campe

Gunatillake, R. (2016). Buddhify Your Life - Ruhig und gelassen bleiben im chaotischen Alltag. München (GER), O. W. Barth Verlag

Marti, L. (2017). Der innere Kompass - Was uns ausmacht und was wirklich zählt. Freiburg/Breisgau (GER), Verlag Herder

Melle, T. (2016 [2007]). Raumforderung - Erzählungen. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag

Vanderbeke, B. (1999 [1997]). Alberta empfängt einen Liebhaber. Frankfurt/Main (GER), Fischer Taschenbuch Verlag

Van der Bellen, A. (2015). Die Kunst der Freiheit - In Zeiten zunehmender Unfreiheit. Wien (AUT), Christian Brandstätter Verlag

Zaborowski, H. (2016). Menschlich sein - Philosophische Essays. Freiburg/München (GER), Verlag Karl Alber


Zeller, F. (2016 [2011]). The Truth. London (UK), Faber & Faber

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