Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd (Terenz – Der Selbstquäler)
Gerd
Rudolf (2015). Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer
Sicht. Stuttagart (GER), Schattauer
Das
Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.schattauer.de
Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)
Stichworte: Psychotherapie, Anthropologie, Coaching, Leben,
Lebensbewältigung, Lebenskompetenz, Rezension
Mensch sein …
Seinem Leben einen Zusammenhang zu geben, hat viel mit
der Frage zu tun, wie wir eigentlich sind, oder wer wir eigentlich sind. Zur
Frage nach dem Wie gesellen sich dann rasch Überlegungen nach der Quelle des
Wirkens: „Wer nun nicht in sich selber wirkt, weilt auch nicht in sich. Sein
und Wirken sind nämlich gleichbedeutend. Weder ist das Sein ohne Wirken, noch
übersteigt das Wirken das Sein, noch wirkt jemand, wo er nicht ist; vielmehr wo
immer er ist, wirkt er.“ (Ficino
2014, 35) Und mit dem Wirken und der Wirkung kommt auch die menschliche Praxis
in den Blickpunkt: „Jede Arbeit, jede Kunst und jeder Beruf bedarf, damit das
Werk gelinge, der Übung. Das weiß jeder, und, um sich in der Welt zu bewähren,
lernt er, übt sich und verarbeitet seine Erfahrungen. … Der Mensch aber wird,
was er sein soll, nicht von selbst. Er wird es nur, wenn er sich selbst in die
Hand nimmt, an sich arbeitet und sich zur Vollendung des Werks ohne Unterlaß
übt. Das wichtigste Werk seines Lebens also ist er selbst, ER SELBST als der
„rechte Mensch“.“ (Dürckheim 2012, 7)
Was für den Menschen im Allgemeinen gilt, gilt auch
für den Psychotherapeuten im Besonderen. Auch Psychotherapie muss geübt werden
– und zwar eingehend geübt werden. Es braucht dafür nicht bloß
psychotherapeutisches Werkzeug, sondern auch menschliches Grundverständnis. In
diesem Sinne lässt sich wohl das aktuelle Buch von Gerd Rudolf verstehen –
„Ziel der Menschenbildbetrachtung ist kein Expertenwissen, sondern ein
selbstreflexives Wissen, das zum Selbstverständnis ebenso wie zum Verstehen des
anderen beiträgt. Psychotherapeuten kann dies zum Aufbau der „therapeutischen
Haltung“ verhelfen, die für das Gelingen einer Behandlung mindestens so wichtig
ist, wie die therapeutischen Techniken.“ (Rudolf
2015, VII)
Menschen leben ihr Leben mehr oder weniger bewusst in
dem Sinne, dass sie bewusste Entscheidungen treffen, die ihren Lebensweg
bestimmen. Natürlich kommen äußere Ereignisse hinzu und die Entscheidungen
anderer Menschen, aber jeder von uns versucht ein selbstbestimmtes, gutes Leben
zu führen: „Denn als menschliche Wesen, die ein Bewusstsein ihres eigenen
Lebens haben, sind wir unvermeidlich mit der Frage nach dem richtigen oder
guten oder sinnvollen Leben konfrontiert und müssten damit ein Interesse daran
haben zu wissen, worin dieses besteht und wodurch es zu erreichen ist.“ (Wolf 2013, 12)
Eine Beschreibung des richtigen, guten, sinnvollen Lebens
ist nur vor dem Hintergrund bestimmter Menschenbilder verständlich –
Menschenbilder, die über die Zeit und den kulturellen Rahmenbedingungen
Veränderungen erfahren haben. Wie Menschen sind, ist daher auch als eine Suche
nach diesen Menschenbildern zu verstehen.
Zum Autor Gerd Rudolf
Gerd Rudolf ist seit vielen Jahren mit psychiatrischen
und psychotherapeutischen Themen befasst. Dieses Interesse spiegelt sich in
seinem akademischen und medizinischen Leben wider – als Professor,
Psychotherapeut, Psychiater, Vortragender. Details zu seinen Aktivitäten finden
sich auf seiner Homepage: www.rudolf-psychotherapie.de
Seine Buchpublikationen finden sich auch an dieser Stelle
aufgelistet: www.rudolf-psychotherapie.de/publikationen/buecher
Menschenbilder
Seine Darstellung der Menschenbilder beginnt Gerd Rudolf
mit einem Zitat von Karl Jaspers, das darauf hinweist, dass diese
Menschenbilder in uns wirken und damit auch in unseren Wahrnehmungen und
Urteilen. „Wir tragen Bilder vom Menschen in uns und Wissen von Bildern, die in
der Geschichte gegolten und geführt haben. Der Kampf der Menschenbilder geht in
uns um uns selbst. Wir haben Abneigung gegen und Neigung zu Bildern, die uns in
einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und
Gegenbildern.“ (Rudolf 2015, 1)
In insgesamt zwölf Kapiteln beschreibt Gerd Rudolf
verschiedene Aspekte, die in Menschenbildern zusammengesetzt und interpretiert
werden – dabei geht es um die Animalität des Menschen, seine Emotionen und
Gedanken, seine Fähigkeit zur Selbstreflexion, seine Religiosität, sein
Verständnis von Moral, Kultur und sein Leben in der Gesellschaft. Jedem dieser
Aspekte ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die letzten drei Kapitel des Buches
integrieren diese Darstellungen in das Feld der Psychotherapie und geben auch
einen Ausblick auf weitere Überlegungen im Bereich der Anthropologie.
Gerd Rudolf wird im Rahmen seines Buches nicht müde zu
betonen, dass Menschenbilder ein wesentlicher Bestandteil in der Wahrnehmung
von Menschen sind. Sie „basieren auf unterschiedlichen Anschauungen der Welt
und des Menschen.“ (Rudolf 2015, 6/7)
– diese Bilder sind normativ, sprich, die geben auch Auskunft darüber, wie
Menschen zu sein haben. (vgl. Rudolf
2015, 17/18). Fünf Menschenbilder werden explizit erwähnt: das traditionelle
christliche Menschenbild, das Menschenbild der Aufklärung, das Menschenbild der
Romantik, das Menschenbild der Moderne und das Menschenbild der Postmoderne. (Rudolf 2015, 168-170)
Die Grundthese des Buches
- Menschenbilder wirken in uns – wird von Gerd Rudolf auch auf die
psychotherapeutische Arbeit umgelegt: „Therapeuten tragen … vielfältige, teils
bewusste, teils nicht bewusste Menschenbilder in sich.“ (Rudolf 2015, 268) Und das hat Implikationen für das therapeutische
Handeln. Es fängt an bei der Frage, was überhaupt behandlungswürdige Zustände
ausmacht (=Diagnostik) und geht auch in Richtung, welche Ziele die Therapie zu
verfolgen hat. Und weil es sich um teils bewusste, teils nicht bewusste Inhalte
handelt, ist es auch eine Frage der Selbstreflexion und der inneren Haltung,
wie mit diesem Wissen gearbeitet werden kann.
Fazit
Ein durch und durch gutes Buch. Auf diese knappe
Einschätzung lässt sich dieser Text reduzieren. Gerd Rudolf hat es in seinem
Buch geschafft, die Bedingungen freizulegen, die der therapeutischen Haltung
innewohnen – das Bild, das wir uns vom Menschen machen, bzw. die Bilder, die
uns in der Arbeit mit Menschen begegnen, haben einen großen Stellenwert in der
Bestimmung von Diagnosen und Therapien. Sich diese Bilder zu vergegenwärtigen,
und dabei zu erkennen, welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, ist ein
wesentliches Anliegen des Buches, dem es auch gerecht wird. „Du weißt nicht,
dass man selbst sein größter Richter ist …“ (Casanova 2014, 143) – das lässt sich auf Fragen der Haltung
bestimmt anwenden. Das Buch ist all jenen empfohlen, die sich mit Menschen
auseinandersetzen – als Therapeutinnen, Coaches, Sozialarbeiter, als Ärztinnen …
es wirft auch ein helles Licht auf die Frage, was für ein Mensch man selbst
sein mag.
„Und dies ist der Kern dieser Geschichte: Wenn Geben
durch sich selbst belohnt wird, kann bisweilen auch Nehmen eine Gefälligkeit
sein.“ (Winter 2015, 147) Geben und
Nehmen – vielleicht sollte das Buch auch unter diesem Aspekt gelesen werden.
Harald G. Kratochvila, Wien
Verwendete Literatur:
Casanova, F. F. (2014 [2010]). Heute ist mein letzter
Tag lebendig (hoffentlich). Wien (AUT), Luftschacht Verlag
Dürckheim, K. G. (2012 [1966]). Der Alltag als Übung -
Vom Weg zur Verwandlung. Bern (SUI), Verlag Hans Huber
Ficino, M. (2014 [1469]). Über die Liebe oder Platons
Gastmahl. Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag
Frankl, V. E. (1998 [1995]). Logotherapie und
Existenzanalyse - Texte aus sechs Jahrzehnten. Weinheim (GER), Psychologie
Verlags Union
Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories,
We've Told - Life Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York,
NY (USA), Oxford University Press
Modiano, P. (2014 [1993]). Ein so junger Hund. Berlin (GER),
Aufbau Verlag
Winter, E. (2015 [2012]). Kluge Gefühle - Warum Angst,
Wut und Liebe rationaler sind, als wir denken. Köln (GER), DuMont Buchverlag
Wolf, U. (2013 [1996]). Die Suche nach dem guten Leben
- Einführung in Platons Frühdialoge. Frankfurt/Main (GER), Vittorio Klostermann
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