Sonntag, 30. August 2015

Rezension: Gerd Rudolf – Wie Menschen sind



Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd (Terenz – Der Selbstquäler)

 

Gerd Rudolf (2015). Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht. Stuttagart (GER), Schattauer

Das Buch wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt – www.schattauer.de

Rezensent: Mag. Harald G. Kratochvila (Wien)

Stichworte: Psychotherapie, Anthropologie, Coaching, Leben, Lebensbewältigung, Lebenskompetenz, Rezension 

Mensch sein …

Rezension Harald G. Kratochvila - Gerd Rudolf: Wie Menschen sind… folgt man den Überlegungen des Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano, dann bedeutet Mensch zu sein,  „… [s]einem Leben einen Zusammenhang zu geben …“ (Modiano 2014, 98/99) Umgelegt auf die psychotherapeutische Arbeit würde das zur Folge haben, Menschen dabei zu helfen, diesen Zusammenhang aufzuspüren, zu schaffen, aber vor allem lebbar zu machen. Menschen begeben sich aus sehr unterschiedlichen Gründen in Psychotherapie (vgl. Kottler 2015). Und manche therapeutischen Schulen betonen die Suche nach dem Sinn auf ganz besondere Weise (vgl. Frankl 1998)

Seinem Leben einen Zusammenhang zu geben, hat viel mit der Frage zu tun, wie wir eigentlich sind, oder wer wir eigentlich sind. Zur Frage nach dem Wie gesellen sich dann rasch Überlegungen nach der Quelle des Wirkens: „Wer nun nicht in sich selber wirkt, weilt auch nicht in sich. Sein und Wirken sind nämlich gleichbedeutend. Weder ist das Sein ohne Wirken, noch übersteigt das Wirken das Sein, noch wirkt jemand, wo er nicht ist; vielmehr wo immer er ist, wirkt er.“ (Ficino 2014, 35) Und mit dem Wirken und der Wirkung kommt auch die menschliche Praxis in den Blickpunkt: „Jede Arbeit, jede Kunst und jeder Beruf bedarf, damit das Werk gelinge, der Übung. Das weiß jeder, und, um sich in der Welt zu bewähren, lernt er, übt sich und verarbeitet seine Erfahrungen. … Der Mensch aber wird, was er sein soll, nicht von selbst. Er wird es nur, wenn er sich selbst in die Hand nimmt, an sich arbeitet und sich zur Vollendung des Werks ohne Unterlaß übt. Das wichtigste Werk seines Lebens also ist er selbst, ER SELBST als der „rechte Mensch“.“ (Dürckheim 2012, 7)

Was für den Menschen im Allgemeinen gilt, gilt auch für den Psychotherapeuten im Besonderen. Auch Psychotherapie muss geübt werden – und zwar eingehend geübt werden. Es braucht dafür nicht bloß psychotherapeutisches Werkzeug, sondern auch menschliches Grundverständnis. In diesem Sinne lässt sich wohl das aktuelle Buch von Gerd Rudolf verstehen – „Ziel der Menschenbildbetrachtung ist kein Expertenwissen, sondern ein selbstreflexives Wissen, das zum Selbstverständnis ebenso wie zum Verstehen des anderen beiträgt. Psychotherapeuten kann dies zum Aufbau der „therapeutischen Haltung“ verhelfen, die für das Gelingen einer Behandlung mindestens so wichtig ist, wie die therapeutischen Techniken.“ (Rudolf 2015, VII)

Menschen leben ihr Leben mehr oder weniger bewusst in dem Sinne, dass sie bewusste Entscheidungen treffen, die ihren Lebensweg bestimmen. Natürlich kommen äußere Ereignisse hinzu und die Entscheidungen anderer Menschen, aber jeder von uns versucht ein selbstbestimmtes, gutes Leben zu führen: „Denn als menschliche Wesen, die ein Bewusstsein ihres eigenen Lebens haben, sind wir unvermeidlich mit der Frage nach dem richtigen oder guten oder sinnvollen Leben konfrontiert und müssten damit ein Interesse daran haben zu wissen, worin dieses besteht und wodurch es zu erreichen ist.“ (Wolf 2013, 12)

Eine Beschreibung des richtigen, guten, sinnvollen Lebens ist nur vor dem Hintergrund bestimmter Menschenbilder verständlich – Menschenbilder, die über die Zeit und den kulturellen Rahmenbedingungen Veränderungen erfahren haben. Wie Menschen sind, ist daher auch als eine Suche nach diesen Menschenbildern zu verstehen. 

Zum Autor Gerd Rudolf

Gerd Rudolf ist seit vielen Jahren mit psychiatrischen und psychotherapeutischen Themen befasst. Dieses Interesse spiegelt sich in seinem akademischen und medizinischen Leben wider – als Professor, Psychotherapeut, Psychiater, Vortragender. Details zu seinen Aktivitäten finden sich auf seiner Homepage: www.rudolf-psychotherapie.de 

Seine Buchpublikationen finden sich auch an dieser Stelle aufgelistet: www.rudolf-psychotherapie.de/publikationen/buecher 

Menschenbilder

Seine Darstellung der Menschenbilder beginnt Gerd Rudolf mit einem Zitat von Karl Jaspers, das darauf hinweist, dass diese Menschenbilder in uns wirken und damit auch in unseren Wahrnehmungen und Urteilen. „Wir tragen Bilder vom Menschen in uns und Wissen von Bildern, die in der Geschichte gegolten und geführt haben. Der Kampf der Menschenbilder geht in uns um uns selbst. Wir haben Abneigung gegen und Neigung zu Bildern, die uns in einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und Gegenbildern.“ (Rudolf 2015, 1)

In insgesamt zwölf Kapiteln beschreibt Gerd Rudolf verschiedene Aspekte, die in Menschenbildern zusammengesetzt und interpretiert werden – dabei geht es um die Animalität des Menschen, seine Emotionen und Gedanken, seine Fähigkeit zur Selbstreflexion, seine Religiosität, sein Verständnis von Moral, Kultur und sein Leben in der Gesellschaft. Jedem dieser Aspekte ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die letzten drei Kapitel des Buches integrieren diese Darstellungen in das Feld der Psychotherapie und geben auch einen Ausblick auf weitere Überlegungen im Bereich der Anthropologie. 

Gerd Rudolf wird im Rahmen seines Buches nicht müde zu betonen, dass Menschenbilder ein wesentlicher Bestandteil in der Wahrnehmung von Menschen sind. Sie „basieren auf unterschiedlichen Anschauungen der Welt und des Menschen.“ (Rudolf 2015, 6/7) – diese Bilder sind normativ, sprich, die geben auch Auskunft darüber, wie Menschen zu sein haben. (vgl. Rudolf 2015, 17/18). Fünf Menschenbilder werden explizit erwähnt: das traditionelle christliche Menschenbild, das Menschenbild der Aufklärung, das Menschenbild der Romantik, das Menschenbild der Moderne und das Menschenbild der Postmoderne. (Rudolf 2015, 168-170)

Die Grundthese des Buches  - Menschenbilder wirken in uns – wird von Gerd Rudolf auch auf die psychotherapeutische Arbeit umgelegt: „Therapeuten tragen … vielfältige, teils bewusste, teils nicht bewusste Menschenbilder in sich.“ (Rudolf 2015, 268) Und das hat Implikationen für das therapeutische Handeln. Es fängt an bei der Frage, was überhaupt behandlungswürdige Zustände ausmacht (=Diagnostik) und geht auch in Richtung, welche Ziele die Therapie zu verfolgen hat. Und weil es sich um teils bewusste, teils nicht bewusste Inhalte handelt, ist es auch eine Frage der Selbstreflexion und der inneren Haltung, wie mit diesem Wissen gearbeitet werden kann. 

Fazit

Ein durch und durch gutes Buch. Auf diese knappe Einschätzung lässt sich dieser Text reduzieren. Gerd Rudolf hat es in seinem Buch geschafft, die Bedingungen freizulegen, die der therapeutischen Haltung innewohnen – das Bild, das wir uns vom Menschen machen, bzw. die Bilder, die uns in der Arbeit mit Menschen begegnen, haben einen großen Stellenwert in der Bestimmung von Diagnosen und Therapien. Sich diese Bilder zu vergegenwärtigen, und dabei zu erkennen, welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, ist ein wesentliches Anliegen des Buches, dem es auch gerecht wird. „Du weißt nicht, dass man selbst sein größter Richter ist …“ (Casanova 2014, 143) – das lässt sich auf Fragen der Haltung bestimmt anwenden. Das Buch ist all jenen empfohlen, die sich mit Menschen auseinandersetzen – als Therapeutinnen, Coaches, Sozialarbeiter, als Ärztinnen … es wirft auch ein helles Licht auf die Frage, was für ein Mensch man selbst sein mag.

„Und dies ist der Kern dieser Geschichte: Wenn Geben durch sich selbst belohnt wird, kann bisweilen auch Nehmen eine Gefälligkeit sein.“ (Winter 2015, 147) Geben und Nehmen – vielleicht sollte das Buch auch unter diesem Aspekt gelesen werden.
Harald G. Kratochvila, Wien

Verwendete Literatur:

Casanova, F. F. (2014 [2010]). Heute ist mein letzter Tag lebendig (hoffentlich). Wien (AUT), Luftschacht Verlag

Dürckheim, K. G. (2012 [1966]). Der Alltag als Übung - Vom Weg zur Verwandlung. Bern (SUI), Verlag Hans Huber

Ficino, M. (2014 [1469]). Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag

Frankl, V. E. (1998 [1995]). Logotherapie und Existenzanalyse - Texte aus sechs Jahrzehnten. Weinheim (GER), Psychologie Verlags Union     

Kottler, J. (2015). Stories, We've Heard, Stories, We've Told - Life Changing Narratives in Therapy and Everyday Life. New York, NY (USA), Oxford University Press

Modiano, P. (2014 [1993]). Ein so junger Hund. Berlin (GER), Aufbau Verlag

Winter, E. (2015 [2012]). Kluge Gefühle - Warum Angst, Wut und Liebe rationaler sind, als wir denken. Köln (GER), DuMont Buchverlag

Wolf, U. (2013 [1996]). Die Suche nach dem guten Leben - Einführung in Platons Frühdialoge. Frankfurt/Main (GER), Vittorio Klostermann

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